Essay: Why look at Instant Life? Ein Versuch über das Skalieren

Giulia Romani, April 2023, 22 min. reading time

2. Preis des Studierenden Essay-Wettbewerbs 2023

As a little girl, I loved to inhabit miniature worlds brimming with even more tiny real and imagined entities. I loved the play of scales in time and space that children`s toys and stories made patent for me. I did not know then that this love prepared me for meeting my companion species, who are my maker.[1]

Der Versandhändler Harold von Braunhut konnte wohl nicht das Ausmass seiner Unternehmung erahnen, als er Anfang 1959, gemeinsam mit dem Marinebiologen Anthony D’Agostino, eine Methode entwickelte, die den Verkauf von Sets ermöglichte, deren Inhalt zunächst als „Instant Life“ (1959), ab 1962 unter dem Namen „Sea-Monkeys“ vornehmlich in den Vereinigten Staaten bekannt werden sollte.[2] Im deutschsprachigen Raum übersetzte sich ab den 1970er Jahren der Name für die zugrundeliegenden nicht-menschlichen Lebewesen in „Urzeitkrebse“.

Bereits an allen drei Wortschöpfungen wird die Vermengung des Biologischen und Imaginärem erkennbar. „Urzeitkrebse“ können ähnlich zu Donna Haraways Begriff der Figurationen (engl. figures) als „material-semiotic nodes or knots“[3] betrachtet werden, „in which diverse bodies and meanings co-shape one another.“[4] Haraway fährt fort: „For me, figures have always been where the biological and literary or artistic come together with all of the force of lived reality.“[5] Wie sich herausstellen wird, gerät Haraways Begriff der Figurationen mit den Urzeitkrebsen jedoch an seine Grenzen: Lässt sich zwar bei den Urzeitkrebsen das beschriebene Zusammenkommen erkennen; allerdings auf kontrollierte Art und Weise, da es sich um „life-made-into-capital”[6] handelt ­– also um kommodifizierte Verhältnisse.

Abb. 1. Werbung aus einem Comicheft mit Illustrationen des Comiczeichners Joe Orlando, 1978

Dass die nicht-menschlichen Lebewesen als Urzeitkrebse bekannt geworden sind, liegt an der entsprechenden Vermarktung: Es ist die gezielte Anordnung von Text und Bild, die den materiell-semiotischen Knoten formieren wie auch die Sichtbarkeit und Wahrnehmung der nicht-menschlichen Lebewesen bedeutungsstiftend ordnen. Dies beeinflusst den Umgang und die Verhältnissevon nicht-menschlichen und menschlichen Lebewesen und stellt entscheidende Differenzen her. Ihre im Vergleich zum Menschen stets klein bleibende Grösse scheint den Urzeitkrebsen einen besonderen Status zu verleihen: sie können menschlich inszeniert werden. Keine dem Menschen bedrohliche Möglichkeiten des Widersetzens, sind ihnen gegeben.[7] Dem Blick und der Zurichtung entziehen können sich die in Behältern aufgezogenen Urzeitkrebse nicht, liegt ihr Leben und Heranwachsen buchstäblich in fremder und aufziehender Hand. Gleichzeitig verspricht die Vermarktung als Urzeitkrebse, Kontakt zu einer prä-historischen Vergangenheit herzustellen. Die damit verbundenen Imaginationsräume reihen sich dabei in eine visuell konstruierte Zeitskala ein.

Dieser Beitrag schlägt vor, Urzeitkrebs-Aufzuchtsets hinsichtlich der darin verdichteten Dimensionen des Skalierens[8] zu betrachten, um auf Fixpunkte der Blick-Ordnungen zu schliessen. Was bleibt in den Bewegungen entlang zeitlicher und räumlicher Skalen unangefochten? Die Auseinandersetzung mit einer (Nicht-)Skalierbarkeit verspricht nicht nur die nicht-menschlichen Lebewesen in eine Bildkritik aufzunehmen, sondern auch im Sinne einer den Human-Animal Studies zugeneigten Bildwissenschaft die Herstellung von Verhältnissen durch und mit visuellen Artefakten zu hinterfragen.[9]

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Diese Frage drängt sich nicht zuletzt dadurch auf, da der massenhafte Verkauf der nicht-menschlichen Lebewesen aufgrund der Fortpflanzung durch robuste Dauereier – Zysten, deren Stoffwechsel inaktiv sind – der Artemia ermöglicht wird.[10] Überdauert werden können aufgrund dieser biologischen Funktion extreme Umweltbedingungen wie sie beispielsweise in Salzseen gegeben sind. Das ,Leben‘ schlüpft schliesslich bei (Salz-)Wasserkontakt und der Zugabe entsprechender Nährstoffe. Diese Charakteristika wurden erstmals 1959 unter dem Begriff Kryptobiose zusammengefasst und visuell als ,verstecktes‘ Leben kodiert:[11] „cryptobiosis that is, latent life, for the state of an organism when it shows no visible signs of life and when its metabolic activity becomes hardly measurable, or comes reversibly to a standstill.”[12] Eine solche Definition führt durch die als Kriterium festgelegten, visuell wahrnehmbaren Lebenszeichen die Dichotomie Beobachtende-Beobachtete geltend ein.

Wie sehr visuelle (und textuelle) Repräsentationen die Verhältnisse zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Lebewesen prägen, beschreibt John Berger in seinem Aufsatz „Why look at Animals?“ der Essay-Sammlung „About Looking“ (1980). Nachskizzierend, wie nicht-menschliche Lebewesen von Höhlenmalereien in den privathäuslichen Warenkorb und öffentlichen Zoo gelangten (caves-carts-cages), argumentiert Berger, dass die Industrialisierung einen alltäglichen Blick-Entzug von Tieren für den Menschen bedeutete. Die daraus resultierende und zunehmende Entfremdung habe dazu geführt, dass gezielt der (kontrollierte) Anblick von nicht-menschlichen Lebewesen als Schauobjekte gesucht wurde. Damit verbundene Macht-Asymmetrien begründet Berger in der neuen Mediation zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Lebewesen:

In the accompanying ideology, animals are always the observed. The fact that they can observe us has lost all significance. They are the objects of our ever-extending knowledge. What we know about them is an index of our power, and thus an index of what separates us from them. The more we know, the further away they are.[13]

Gerade anhand von Kinderspielzeugen, wie Berger hinweist, lässt sich die veränderte Rolle von nicht-menschlichen Lebewesen in einer anthropozentrischen Welt nachvollziehen.[14]

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Abb. 2. Vorder- und Rückseite des Urzeitkrebs-Aufzuchtsets „Urzeitkrebse“ von KOSMOS

Die Formate und Distributionswege der Urzeitkrebs-Aufzuchtsets haben sich seit den „Sea-Monkeys“ ausdifferenziert. Aktuell sind vor allem jene Urzeitkrebs-Aufzuchtsets marktführend, die konzeptionell an Spielzeug-Reihen von Experimentierkästen angebunden sind. Fokussiert werden in diesem Beitrag die Sets des Herstellenden KOSMOS, welcher sich mit dessen Experimentierkästen der spielerisch-didaktischen Vermittlung von Naturwissenschaften für Kinder und Jugendliche verschrieben hat.[15] Die KOSMOS-Aufzuchtsets werben mit einer nachhaltigen Förderung des Natur- und Umweltbewusstseins. Wenn auch die Urzeitkrebs-Aufzuchtsets nicht mehr wie bei den „Sea-Monkeys“ Bildfläche für ideologische Darstellungen von Kernfamilien aus den 60ern und 70ern sind, sind trotz der unterschiedlichen Verkaufsversprechen Konstanten in den Text- und Bild-Rhetoriken festzustellen. Diese Konstanten mögen sich unter anderem daraus ergeben, dass die nicht-menschlichen Lebewesen seit von Braunhut als besondere Beobachtungsobjekte gerahmt werden, die in jeglichen Entwicklungsstadien betrachtet werden können und sollen. Gerade bei den KOSMOS-Sets überlagern sich dabei mehrere Konzeptualisierungen der nicht-menschlichen Lebewesen – jene des Haustiers, Forschungsobjekts und der „animals transformed into spectacle“[16].

Dies verdeutlicht bereit die Wahl des transparenten Plastik-Materials für die Behältnisse, welches nicht nur die Vorteile geringer Produktionskosten, Formbarkeit und Transportfähigkeit bietet, sondern auch die Möglichkeit zur Einsicht in den Innenraum. Die Innenräume werden dabei von Benutzenden minimal eingerichtet, was ebenfalls nicht nur produktionstechnisch zu deuten ist, denn eine üppige Gestaltung würde der Tätigkeit des Beobachtens unbehilflich sein. Wenngleich auf den Verpackungen Pflanzen als Teil der Behälter dargestellt werden, sind die entsprechenden Mittel zur Begrünung nicht inbegriffen noch wird eine solche im beigelegten Material empfohlen. Stattdessen ist bei einzelnen Sets Gestaltungsmaterial in papierener Form enthalten: So schliesst das „Wuselnde Salzkrebse“-Aufzuchtset bspw. einen „Höhlenaufsteller“[17] ein, welcher, als faltbares Papierobjekt hinter den Behälter gelegt, den aquatischen Bildraum um eine Grotte erweitert und so atmosphärisch ein „Höhlenpanorama“[18] inszeniert.[19] Die „tierliche Einschliessungsarchitektur“[20] wird mit diesen Inszenierungsstrategien aus dem Blick gerückt, was dazu führt, dass die Urzeitkrebse gar nicht in einem Status als in Gefangenschaft erwägt werden.

Abb. 3. Vorder- und Rückseite des Urzeitkrebs-Aufzuchtsets „Wuselnde Salzkrebse“ von KOSMOS

Die Aufzuchtsets reihen sich aufgrund dieser Gestaltungsprinzipien eher in die Tradition von Goldfischgläsern statt Aquarien ein: Wie Mareike Vennen argumentiert, bestand der Umbruch in der Wassertierhaltung im 19. Jahrhundert in der Einrichtung neuer, umfangreicherer Milieus im Wohnzimmer – insbesondere durch das Hinzufügen von Pflanzen in den aquatischen Raum des zu dieser Zeit geprägten Begriffs (und den damit verbundenen Praktiken) des Aquariums.[21] Aquarien sollten als„Schaufenster zur Natur, das sich wie ein Gemälde darbietet und seine Präparate vor lebensnaher Kulisse als Habitat ausstellt“[22], (menschlich ausgemachte) Zusammenhänge präsentieren. Diese Einsicht in die Natur versprechen zwar auch die Paratexte der Urzeitkrebs-Aufzuchtsets, die Einblicke „in die Lebenswelt“[23] anbieten sollen und durch die Abbildung von Pflanzen Zusammenhänge über die nicht-menschlichen Lebewesen hinaus herzustellen versuchen. Dem Versprechen des Umweltbewusstseins widerspricht jedoch die Isolierung der nicht-menschlichen Lebewesen in den transparenten Plastik-Behältern – eine Isolierung, die auch eine visuelle ist.

Die Idee des Aquariums als Schaufenster kann auch an anderer Stelle nicht für die Urzeitkrebs-Aufzuchtsets übernommen werden: Erneut ist es die handhabbare Grösse des gesamten Behälters, die beliebige Standorte- und Höhen ermöglicht, somit den Blick nicht auf eine Seitenansicht beschränkt, sondern um die Möglichkeit der Auf- und Übersicht erweitert. Das Dispositiv des Schnittbildes, welches Stephen Jay Gould bezüglich des Aquariums umreisst, ist ausgerichtet auf die Immersion in den Bildraum des Betrachtenden. Die aquatischen Lebewesen würden im Aquarium „not from above through the opacity of flowing waters withsurface ripples, but eye-to-eye and from side through transparent glass and clear water“[24] gesehen werden – ein Umstand, der bei dem Aufbau der Urzeitkrebs-Aufzuchtsets nicht (ausschliesslich) greift. Die Verlegung des Blicks in die Vertikale ist Ausdruck der Dominanz der menschlichen Position und bestärkt die anthropozentrische Perspektive.

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Was gesehen werden soll, wird ebenfalls durch die Texte und Bilder angeleitet und prä-konfiguriert. Die Illustrationen und Abbildungen auf den Verpackungen sind im klassischen Sinn der Bildskalierung vergrössert und entsprechen so nicht der Lebensgrösse der nicht-menschlichen Lebewesen. Die multiperspektivisch ausfallenden, farbigen Darstellungen auf den Verpackungs- Bildoberflächen legen Bewegung und Dreidimensionalität nahe. Den Urzeitkrebsen scheint dadurch eine Lebendigkeit zugeschrieben zu werden, die entscheidend das Versprechen der Urzeitkrebs-Aufzuchtsets als „live“-Erlebnis vorbereiten. Die Aufzucht und die Beobachtung der „quicklebendigen“[25] nicht-menschlichen Lebewesen artikuliert sich als Erlebnis, an welchem teilgenommen werden kann, ineiner „Form gesteigerter Erfahrung“[26], wie Natascha Adamowsky beschreibt, in der sich „das vermeintlich ‚nur‘ Beobachtete, Observierte, zu einer Form erlebter, erregender Wirklichkeit“[27] verdichtet und vervielfältigt. Live ist somit als sensationelle Lebendigkeit zu umreissen, die scheinbar in Echtzeit ein „Hautnah dabei sein“[28] verspricht.

In dieser Vermarktung als visuelles Spektakel stabilisiert sich die Trennung zwischen den betrachteten nicht-menschlichen Lebewesen und den menschlichen Betrachtenden.[29] Diese Trennung wird auch in dem Verhältnis der Zucht deutlich; demaktiven Eingreifen und Animieren der nicht-menschlichen Tiere.[30] Die Besitzverhältnisse werden deutlich verbalisiert: „Züchte deine eigenen Triopse!“[31] Das Aufziehen der nicht-menschlichen Lebewesen in privater und häuslicher Umgebung (des Kinderzimmers) verläuft mit und durch anleitende Texte und Bilder, die, als Vorlage dienend, einen Abgleich zwischen idealer und realisierter Versuchsanordnung erlauben: Wer den regelhaften Anweisungen, „Schritt-für-Schritt“[32], nicht folgt, riskiert den Zuchterfolg und einen damit verbundenen Blick-Entzug der nicht-menschlichen Lebewesen.

Auffällig ist, wie mit den Bildern auf der Verpackung, die in der Zucht angelegte Grössen-Entwicklung, das Wachstum, angekündigt wird – sei dies bspw. durch die Bildmontage in der Logik des Vorher-Nachher, bei welcher zwei Bilder nebeneinander, in diesem Fall durch einen illustrierten Pfeil, in einen zeitlich-kausalen Zusammenhang gebracht werden. Ausgeklammert und verkürzt werden hier gerade die Zwischenschritte. Diese zeitliche Komprimierung wird auch von der Emphase begleitet, dass Ergebnisse bereits nach kürzester Zeit zu sehen seien.[33]

In den ikonischen Instrumenten der Naturwissenschaft – der Lupe, der Petrischale, der Pipette, allesamt aus transparentem Plastik den Urzeitkrebs-Sets beigefügt–, wird das Programm der Experimentierkästen, nämlich Wissenschaft zu vermitteln, erkennbar – und das Paradigma beobachtender Naturwissenschaft übernommen. Dabei scheint es in der Vermittlung weniger um ein Wissen über die nicht-menschlichen Tiere selbst als um das Beobachten und die damit verbundenen Aufschreibepraktiken zugehen: Mit beigelegtem „Forscherheft“, welches die Verschriftlichung der kontinuierlichen Beobachtung des „lehrreichen Beobachtungsobjekt“[34] anregen soll, werden Bild und Schrift miteinander verknüpft.[35] Herangeführt wird an eine „Science in Action“, bei welcher der Fokus auf dem Prozesshaften und auf der Tätigkeit und Methode des Er-Forschens liegt.

Das Augenmerk liegt dabei nicht nur auf dem Wachstum. Auch Verhaltensweisen der nicht- menschlichen Lebewesen werden als beobachtungswürdig angekündigt. Verbal wird bspw. der Panzerwechsel oder das Im-Sand-Wühlen der Urzeitkrebse explizit herausgegriffen, die besonders Vorstellungen menschenfremder Verhaltensweisen aufrufen und stets mit der Aufforderung des Zusehens und Beobachtens verknüpft werden.[36]

Erforschen – bei den Urzeitkrebs-Aufzuchtsets als Imperativ gedacht[37] – wird als eine zeitlich kontinuierliche Aufgabe und Tätigkeit über mehrere Wochen hinweg gedacht:[38] „Jede Phase der schnellen Entwicklung bietet Neues zum Entdecken. Tag für Tag gibt es somit Grund, sich mit dem Triops-Becken zu beschäftigen (…).“[39] Die konstruierte zeitliche Skala weist jedoch nicht nur in die Zukunft; das Spiel greift auch in die Vergangenheit zurück.

Abb. 4. Vorder- und Rückseite des Urzeitkrebs-Aufzuchtsets „Triops-Welt“ von KOSMOS

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Auf allen Verpackungen der Aufzuchtsets fällt der Begriff der Urzeit, sowohl namensgebend für die nicht-menschlichen Lebewesen als auch eine umfangreiche, zeitlich abgeschlossene Lebensumgebung bezeichnend. Welchen Zeitraum die Urzeit umfasst, wird nicht explizit ausgeführt. Und so stellen visuelle Spuren die Verknüpfung der „lebenden Fossilien“[40] zur Urzeit her, zu der, dies sei an dieser Stelle betont, keine Referenzobjekte zur Überprüfung herangezogen werden können. Vielmehr aus einem kollektiven Bild-Gedächtnis schöpfend, welches historisch und popkulturell geprägt ist, rufen die Urzeitkrebs-Aufzuchtsets Imaginationsräume vor-menschlicher Erdgeschichte auf.

In einem helleren, bläulichen Farbton auf den dunkelblauen Verpackungen werden Umrisse von Fährten oder auch die Konturen eines Unterwasser-Sauriers und Fossilien sichtbar, die in keinem direkten Zusammenhang mit den nicht-menschlichen Lebewesen der Aufzuchtsets stehen. Die Darstellung diverser „Urzeit-Ikonen“ zielt darauf ab, den Kontakt zu einer vor-menschlichen Zeit herzustellen und diese in die Gegenwart zu holen. W. J. T. Mitchell argumentiert am Beispiel von Dinosaurier-Bildern, dass die Bildgebungsbestrebungen als eine Demonstration der menschlichen Dominanz zu bewerten sind. Die Bilder der Dinosaurier seien gerade deshalb seit dem 19. Jahrhundert populär geworden, weil ein Aussterben – und damit verbunden ein Ablösen einer Lebensraum-dominierenden Gruppe von Lebewesen durch eine andere – jener visuellen Domestizierung der Lebewesen vorangegangen ist.[41] Eingebettet in einen narrativen Zyklus des Aussterbens und der Verlebendigung,[42] drückt sich die Superiorität des Menschen nicht nur in Bezug der nicht-menschlichen Lebewesen aus, sondern auch in der Manipulation zeitlicher Ordnungen.

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Die Urzeitkrebs-Aufzuchtsets sind keinesfalls homogene Artefakte, die sie begleitenden Bilder und Rhetoriken sind widersprüchlich. Mit dem Fokus dieses Beitrags auf jene Momente, die räumliche und zeitliche Skalen konstruieren, die eine Positionierung der Betrachtenden einfordern, konnte auf Fixpunkte hingewiesen werden, die besonders die menschlicheZurichtung und Kontrolle über die nicht-menschlichen Lebewesen verdeutlichen. In der Benennung der Einseitigkeit des visuellen Beforschens werden Macht-Asymmetrien aufgedeckt.

Das Skalenspiel, welches Donna Haraway in dem diesen Text anführenden Zitat beschreibt, ist eine Entgegnung auf die bekräftigte Trennung von Objekt und Subjekt der Urzeitkrebs- Aufzuchtsets, dem Dualismus des Anblickens. Sie beschreibt das ebenbürtige Spiel entlang zeitlicher und räumlicher Skalen, welches nicht von dem Betrachten, sondern Bewohnen (engl.„inhabit“)[43] der Miniaturwelten ausgeht – und schlägt vor, im Sinne ihrer Idee der companionship[44] den Blickrespektvoll zu erwidern: „Looking back in this way takes us to seeing again, to respecere, to the act of respect. To hold in regard, to respond, to look back reciprocally, to notice, to pay attention, to have courteous regard for, to esteem: all of that is tied to polite greeting, to constituting the polis, where and when species meet. To knot companion and species together in encounter, in regard and respect, is to enter the world of becoming with, where who and what are is precisely at stake.”[45][46]

Die Urzeitkrebs-Aufzuchtsets:

Produktbeschreibung Experimentierkästen, KOSMOS: https://www.kosmos.de/de/content/Footer/Unternehmen/KOSMOS/-Das%20Verlagsprogramm, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

„Urzeit-Krebse“ (UK): https://www.kosmos.de/de/urzeit-krebse_1657871_4002051657871, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023

„Triops züchten“ (TZ): https://www.kosmos.de/de/fun-science-triops-zuchten_1637231_4002051637231, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

„Triops-Welt“ (TW): https://www.kosmos.de/experimentierkaesten/triops-dinosaurier/10311/triops-welt, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

„Wuselnde Salzkrebse“ (WS): https://www.kosmos.de/experimentierkaesten/triops-dinosaurier/10333/fun-science-wu-selnde-salzkrebse, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

Abbildungsverzeichnis:

Abb. 1: Sea-Monkeys AD von 1978, Roger Johnson, Flickr, CC BY-SA 2.0. Abb. 2: Vorder- und Rückseite der Verpackung „Urzeit-Krebse“, Quelle:

https://www.kosmos.de/de/urzeit-krebse_1657871_4002051657871, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

Abb. 3: Rückseite der Verpackung „Wuselnde Salzkrebse“, Quelle: https://www.kosmos.de/de/fun-science-wuselnde-salzkrebse_1654160_4002051654160, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

Abb. 4: Vorder- und Rückseite der Verpackung „Triops-Welt“, Quelle: https://www.kosmos.de/experimentier-kaesten/triops-dinosaurier/10311/triops-welt, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

[1] Donna Haraway (2008): When Species Meet, Minneapolis: University of Minnesota Press, S.4.

[2] Eine umfassende Aufarbeitung ist zum aktuellen Zeitpunkt noch ausstehend. Journalistische Beiträge wurden zu den „Sea-monkeys“ in den vergangenen Jahren vermehrt aufgrund eines politischen Interesses an Harold von Braunhut veröffentlicht. Vgl. hierzu bspw.: Tamar Brott (2000): The Sea Monkey and the White Supremacist, in: Los Angeles Times, 1.10.2000 oder Jack Hitt (2016): The Battle over the Sea- Monkey Fortune, in: The New York Times Magazine, 14.04.2016.

[3] Haraway, When Species Meet, S.4.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Corinne P. Hayden (2003): „Suspended Animation. A Brine Shrimp Essay”, in: Remaking Life & Death. Toward an Anthology of Biosciences, hrsg. von Sarah Franklin und Margaret Lock. Santa Fe/Oxford: SAR Press, S. 193-225, hier S. 194.

[7] Einzig die stets präsente Möglichkeit des Ablebens (und der damit verbundene Bildentzug) der nicht-menschlichen Lebewesen mag einen emotionalen – wie auch wirtschaftlichen – Verlust bedeuten und damit Grenzen der Inszenierung setzen.

[8] Der Begriff des Skalierens wird vornehmlich technisch und ökonomisch gebraucht. Diesem Beitrag liegt der Definitionsversuch von Carlos Spoerhase und Nikolaus Wegmann zugrunde, basierend auf der etymologischen Herkunft aus dem lat. das lat. Verb scandere, (hinauf-)steigen, welches im 18. Jh. aus it. Scoela, Treppe, Leiter zu Skala entlehnt wird. „Skalieren als Operation ist dann die aufwärts oder abwärts gehende Verschiebung von Objekten, Phänomenen oder Praktiken auf einer gradierten Linie (Skala), die einzelne Formen und Formate voneinander trennt, aber gleichzeitig auch wieder verbindet, weil der gemeinsame Maßstab noch Phänomene zusammenbringt, die bis dahin als nicht vergleichbar wahrgenommen wurden.“ Carlos Spoerhase und Nikolaus Wegmann (2018): „Skalieren“, in: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Band 2, hrsg. Von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag, S. 412-424, hier S. 414f.

[9] Daran schliessen tierethische Fragestellungen an, die in diesem Rahmen nicht diskutiert werden können.

[10] Die Menge des Verkaufs von Salzkrebsen als Teil der Aufzuchtsets ist im Vergleich zu dem Verkauf als Fischfutter gering. Gerade weil die Eierdauerhaft lagerfähig sind, werden sie in grossen Mengen gelagert, verschifft und für die Fischzucht und -haltung verkauft. Gleichzeitig machen Faktoren wie „Pflegeleichtigkeit“, „Robustheit“ oder „Einfachheit“ die Salinenkrebse attraktiv für die Forschung, wie Corinne P. Hayden in ihremEssay über die Rolle der Salinenkrebse als „Instrumente“ argumentiert. Vgl. Ebd., insbesondere, S. 210.

[11] Der Begriff der Kryptobiose wurde von dem britischen Biologen David Keilin massgeblich als Antwort auf den Begriff der Anabiose vorgebracht. Beginnend bei Experimenten von Antoni Leeuwenhoek, umreisst Keilin die biologische Wissenschaftsgeschichte des Problems der „resurrection“ und schlägt anschliessend neue Untersuchungsweisen vor. Vgl. David Keilin (1959): The Leeuwenhoek Lecture: The Problem of Anabiosis or Latent Life: History and Current Concept, in: Proc. Royal Soc. London. Series B. Vol. 150, No. 939 (März 1959), S. 149–191. Für beispielhafte wiss. Illustrationen, siehe D.J. Kuenen (1938): Historical Notes on Artemia salina (L.), in: Zoologische Mededelingen, 20(18), S. 222– 230. Eine wissenschaftshistorische Einordnung des erstarkenden Interesses an der Kyrptobiose scheint bisher ausgeblieben zu sein. Weiterführend zu untersuchen wäre auch, ob und inwiefern die Forschung von Kuenen und Keilin von Braunhut bekannt war.

[12] Keilin, Leeuwenhoek Lecture, S. 166. Hervorhebung GR.

[13] John Berger (1970): „Why look at Animals?”, in: Ders.: About Looking, S. 1-26, hier S. 14. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Berger ‚kleine‘ Lebewesen nicht in dessen Bildkritik miteinbezieht.

[14] Berger, Why look at Animals?, S. 20.

[15] Unter dem Schirmbegriff der Naturwissenschaften benennt der Verlag die folgenden Disziplinen: Chemie, Elektronik und Physik, Nanotechnologie, vgl. Produktbeschreibung Experimentierkästen, KOSMOS: https://www.kosmos.de/de/content/Footer/Unternehmen/KOSMOS/-Das%20Verlagsprogramm, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023. Viola van Beek (2009) fügt dem KOSMOS- Sortiment Biologie, Bauwesen und Astronomie in ihrer Untersuchung zur Genese von Experimentierkästen im deutschsprachigen Raum zu. Vgl. Viola van Beek (2009): „‚Man lasse doch diese Dinge selber einmal sprechen‘: Experimentierkästen, Experimentalanleitungen und Erzählungen zwischen 1870 und 1930“. NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (4): 387– 414, hier S. 409.

[16] Berger, Why look at Animals? S. 14.

[17] Produktbeschreibung des Herstellenden des Sets „Wuselnde Salzkrebse“ (WS), vgl. https://www.kosmos.de/experimentierkaesten/triops-dinosaurier/10333/fun-science-wuselnde-salzkrebse, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

[18] Verpackungsvorderseite, WS.

[19] Das Bildmotiv der Grotte lässt sich zu einer „Grottenarchitektur“ in der frühen Phase der (bürgerlichen) Aquaristik zurückverfolgen, vgl. Mareike Vennen (2018): Das Aquarium: Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein Verlag, S. 303. Demselben Set ist auch ein Stickerbogen zur weiteren Gestaltung des Behältnisses hinzugefügt.

[20] Vennen, Aquarium, S. 105.

[21] Vennen, Aquarium, S. 11.

[22] Matthias Bruhn (2020): „Membran der Sichtbarkeit: Glas“, in: Milieu Fragmente: technologische und ästhetische Perspektiven, hrsg. Von Rebecca Ladewig und Angelika Seppi, S. 262-275, hier S. 265.

[23] Produktbeschreibung des Herstellenden, WS.

[24] Stephen Jay Gould (1998): „Seeing Eye to Eye – Through a Glass Clearly”, in: ders.: Leonardos’s Mountain of Clams and the Diet of Worms. Essay on Natural History. New York: Three Rivers Press, S. 57- 73, hier S. 59.

[25] Vgl. Verpackungsrückseite des Sets „Triops züchten“ (TZ), vgl. https://www.kosmos.de/de/fun-science-triops-zuchten_1637231_4002051637231, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

[26] Natascha Adamowsky (2009): „Annäherungen an eine Ästhetik des Geheimnisvollen – Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts“, in: unter wasser über wasser. Vom Aquarium zum Videobild, Ausstellungskatalog Kunsthalle Wilhelmshaven, S. 219-233, hier S. 231.

[27] Ebd.

[28] Produktbeschreibung des Herstellenden, TZ.

[29] Die Asymmetrie zeigt sich auch in der sprachlichen De-Individualisierung und Kollektivierung der nicht- menschlichen Lebewesen gegenüber der individuellen Adressierung eines „Du“.

[30] An dieser Stelle ist eine Parallele zu Dinosaurier-Bildern festzustellen: Wie W.J. T. Mitchell festhält, ist die Bildgeschichte der Dinosaurier stets begleitet von dem Denkbild der „resurrection – the idea that the images are not merely reconstructions or restorations but that they bring the dead back to life.“ Ebd., S. 95. In dem Narrativ des resurrection spiele Wissenschaft eine zentrale Rolle, ist es doch Mary Shelleys Frankenstein, die den modernen Mythos wissenschaftlicher Auferstehung begründet und bspw. in dem Film Jurassic Park (1993) in ein zeitgenössisches, biotechnologisches Setting überführt wird. Vgl. W. J. T. Mitchell (1998): The last Dinosaur Book: The Life and Times of a Cultural Icon. Chicago: University of Chicago Press, S. 95.

[31] Verpackungsrückseite, TZ. Hervorhebung GR.

[32] Produktbeschreibung des Herstellenden des Sets „Triops-Welt“ (TW), vgl. https://www.kosmos.de/experimentierkaesten/triops-dinosaurier/10311/triops-welt, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023.

[33] „Die ersten Larven schlüpfen schon nach 1 Tag!“ (Verpackungsvorderseite, WS) und „Schneller Zuchterfolg garantiert“ (Verpackungsvorderseite des Sets „Urzeit-Kresbse“ (UK), vgl. https://www.kosmos.de/de/urzeit-krebse_1657871_4002051657871, zuletzt aufgerufen am 01.04.2023).

[34] Produktbeschreibung des Herstellenden, TZ.

[35] Wie Viola van Beek allerdings hinweist, bietet gerade der Umgang von Kindern mit solchen Regelwerken Potentiale des Ausbrechens aus solchen Protokoll-Formen, resultierend in historiographisch problematischen Konsequenzen. Vgl. van Beek, Dinge sprechen, S. 408.

[36] Bsp. „Beobachte den Wechsel ihrer Panzer“ (Verpackungsvorderseite und -rückseite, TZ) oder „Denn welches Tier hat schon drei Augen und atmet mit den Beinen?“ (Produktbeschreibung des Herstellenden, TZ).

[37] Vgl. Verpackungsrückseite, TW.

[38] Vgl. Produktbeschreibung des Herstellenden, TW.

[39] Produktbeschreibung des Herstellenden, TZ.

[40] Vgl. Verpackungsrückseite, TW. Anführungszeichen übernommen.

[41] Mitchell, The last Dinosaur Book, S. 69-82.

[42] Mitchell, The last Dinosaur Book, S. 159.

[43] Vgl. Haraway, When Species Meet, S. 4.

[44] Haraway führt den Begriff companion auf das Lateinische cum panis, „with bread“ zurück, „messmates“ und arbeitet parallel verlaufende Bedeutungslininen des Konsums heraus. Vgl. Haraway, When Species Meet, S. 17 und 32. Roland Borgards beschreibt, dass dieser Zugang die Anerkennung von Handlungsmacht der nicht-menschlichen Lebewesen ermöglicht: „Begreift man die Tiere als Akteure oder als Companions, dann erscheinen sie nicht länger als bloße Objekte menschlicher Zurichtungen, sondern als eigenständige, mit Handlungsmacht ausgestatte Wesen, als Wesen mit ›Agency‹. Tiere sind demnach mehr als passive Elemente der menschlichen Kultur; sie sind aktiv Mitwirkende an speziesübergreifenden Gemeinschaften, die so weit reichen können wie die Koevolution von Mensch und Hund oder so eng gefasst sein können wie das Aufeinandertreffen von Verhaltensforschern und Fruchtfliegen im Labor.“ Roland Borgards (2016): „Einleitung: Cultural Animal Studies“, in: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, hrsg. von Roland Borgards, S. 1-7, hier S. 2.

[45] Haraway, When Species Meet, S. 19.

[46] Ich danke Dr. Friederike Zenker für die sorgsame Arbeit am Text, sowie meinen beharrlichen Freund*innen für die jeweils aufmerksamen Lektorats- und Lektüredurchgänge.