Review: Kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz

Warja Tolstoj, David Bucheli, Simon Lindner, Hella Wiedmer-Newman, December 2024, 6 min. reading time

Introduction

The Kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz exhibition at the Landesmuseum in Zurich gives a compelling insight into Switzerland’s deep involvement in colonial enterprises, despite never having colonies of its own. It challenges the image of Switzerland as a passive observer, instead demonstrating how it was in fact an active beneficiary of global exploitation.

During the colonial period, poverty drove many Swiss individuals into mercenary work for colonial powers, while Swiss banks financed exploitative ventures and Swiss industries thrived on profits generated through colonial trade networks. By showcasing personal items, historical documents, artifacts and stories of those involved in all aspects of this history the curators confront Switzerland’s complicity and economic gain from colonialism ‒ instead of shying away from these uncomfortable truths.

The exhibition goes beyond recounting history by exploring how these entanglements reverberate today. From modern banking practices to cultural legacies, it invites visitors to confront enduring systemic impacts, making it a poignant and thought-provoking journey.

(Warja Tolstoj)

 

Kolonial, in Klammern

Der Eingang zur Ausstellung ist textlastig. Über dem viersprachigen Einführungstext ist der Titel kolonial in Buchstaben von beeindruckender Grösse gesetzt. Links oben und rechts unten ist das Titelwort prominent mit Eckklammern versehen – nicht nur am Ausstellungseingang, sondern auf allen Promotionsmaterialien des Landesmuseums. Manche Besucher:innen kennen diese typografische Markierung vielleicht noch aus der kommentierten Klassenlektüre im Schulunterricht. Damit wird angezeigt: Dieses Wort ist erklärungsbedürftig. Es versteht sich nicht von selbst, obwohl oder gerade weil es längst in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Über die Ausstellung verrät das zunächst, dass sie einen didaktischen Anspruch verfolgt und sich der diskursiven Strategie des Kommentars bedient – einer paratextuellen Form also, die an schon Gesagtes und Geschriebenes anschliesst und damit zugleich besagt, dass wir mit dem Basistext noch lange nicht fertig sind. Dass die Schweiz – das Land der Schokolade ohne Kakaoplantagen und des Rohstoffhandels ohne nennenswerte Rohstoffvorkommen – eine koloniale Geschichte hat, mag selbstverständlich sein. Aber wie mannigfaltig sich diese kolonialen Macht- und Ausbeutungszusammenhänge darstellen und wie sie bis heute soziale Realitäten, Denkweisen, wirtschaftliche Strukturen oder das kulturelle und politische Selbstverständnis in der Schweiz wie auch an ihren kolonialen Schauplätzen prägen, versteht sich nicht von selbst. Wie diese Zusammenhänge in einer Ausstellung thematisieren, ohne selbst koloniale Blickstrukturen oder Wissensregime zu reproduzieren? Wie umgehen mit historischen Bildern voller Gewalt und rassistischer Stereotypen? Und wie der Sprache auf Archivalien und Artefakten begegnen, die sich entmenschlichenden Begrifflichkeiten bedient?

In den beschreibenden Wandtexten begegnet man den Eckklammern des Öfteren. Sie weisen auf Komplexität hin, die mit kommentierenden Erläuterungen weniger entschärft als vermittelt werden soll. Insgesamt 26 Begriffe von «Agency» über «Postkolonial» und «Restitution» bis «Versklavte Menschen» finden sich mit solchen Eckklammern markiert – Begriffe, die in einem separaten Faltblatt diskutiert und historisiert werden. Das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, das in der Ausstellung gerne eine Entlastung von allen Reparations- und Restitutionsansprüchen sähe, belächelt das Glossar als eine Konzession an den Zeitgeist in «unseren sensiblen Zeiten». Dabei zeigt sich in dieser kenntnisreichen Handreichung gerade das wissenschaftliche Selbstverständnis der Ausstellung: Glossen als eine textnahe Form des Kommentars rechnen mit einem Publikum, das zwischen den Zeilen lesen kann und Sprache nicht als abgeschlossenes System, sondern gleichermassen als Ausdruck von Machtverhältnissen und Schauplatz ihrer Kritik versteht.

(David Bucheli)

Blick in die Ausstellung. Credit: Schweizerisches Nationalmuseum.

Geschichte von heute

Der Begleittext kündigt eine Zweiteilung der Ausstellung an: «Der grosse erste Teil behandelt in 11 Kapiteln Themen, mit denen Schweizer Personen, Firmen oder Gemeinwesen eine Verbindung zum Kolonialismus hatten. Der zweite Teil der Ausstellung richtet den Fokus auf die kolonialen Kontinuitäten und führt in die Gegenwart.» Das klingt nach einer sauberen Aufteilung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, entsprechend einer verkürzten Idee vom Museum als abgezirkeltem Raum der Vergangenheit, die so ganz anders ist als die Gegenwart. Gerade beim brisanten Thema der Schweizer Verflechtungen in das Unrecht des Kolonialismus könnte eine solche kategorische Abgrenzung auf moralische Entlastung abzielen. Glücklicherweise ist der historische Teil der Ausstellung aber von Gegenwartsbezügen nur so durchzogen. Jeder der 11 Themenabschnitte enthält eine blaue Wand mit der Frage: «Und heute?» Im zweiten Abschnitt zum Thema Handel informiert die blaue Wand beispielsweise darüber, dass die Schweiz gegenwärtig zu den weltweit wichtigsten Rohstoffhandelsplätzen gehört. Anstatt dass die ehemals kolonisierten Länder von ihrem Rohstoffreichtum profitieren, fließen die Gewinne an die Händler aus dem Globalen Norden, während die Herkunftsländer die schweren sozialen und ökologischen Lasten tragen. In gestalterischer Hinsicht sind die blauen Wände so etwas wie ein roter Faden der Ausstellung: «Und heute?», «und heute?», «und heute?»… 11-mal wiederholt. Das ist nicht nur ein didaktisches Mittel zur Überwindung des falschen Abstands, der einen Besuch im historischen Museum vom Heute abschirmen könnte. Auf diese Weise wird angemessen vermittelt, wie tiefgreifend die koloniale Gewalt von damals die Lebensverhältnisse zukünftiger Generationen (einschließlich der unseren) verändert hat.

(Simon Lindner)

 

Blick in die Ausstellung. Credit: Schweizerisches Nationalmuseum.

Aufrufe zum Mitdenken

Im letzten Raum bilden sechs Monitore ein Kreissegment. Stühle vervollständigen den Kreis und laden zum Platznehmen ein. Als ich diese Anordnung erblickte, wurde ich erst skeptisch; die Bührle-Sammlung im Kunsthaus nutzt solche talking heads, um die Frage der Restitution von NS-Raubkunst als reines Gedankenexperiment zu relativieren. Doch die sechs Expertinnen, die uns am Ende der Ausstellung im Landesmuseum von diesen Bildschirmen aus konfrontieren, nehmen den Nachhall des Kolonialismus in der zeitgenössischen Schweiz als Faktum und offerieren in einer Art öffentlichem Forum Strategien ‒ vom Errichten neuer Monumente und der Subversion alter Monumente zu direkten Eingriffen in die Politik. Zur Schweizer Erinnerungsaufarbeitung im Kulturwesen und dazu, dass die Schweiz noch auf der Suche nach Formen ist, über ihre Vergangenheit zu sprechen, habe ich mich schon (hier und da) geäußert. Das Bild des Forums scheint eine sehr schweizerische Art, die Komplexität der Geschichte zu verhandeln.

Dahinter endet die Ausstellung mit einer grossen Wand, auf der einige Abschlussfragen das Publikum explizit dazu auffordern, sich einzubringen, zum Beispiel: «Was hat Kolonialismus mit mir zu tun?» und «Was erinnert in meiner Umgebung an den Kolonialismus?» Als ich mit meinen Kolleg:innen die Ausstellung besuchte, waren schon fast alle Kärtchen auf der Fläche vollbeschrieben. Die Besucher:innen haben viel zu sagen. Wieso fühlt sich diese Ausstellung anders an als so viele andere gegenwärtige politisch engagierte Ausstellungen, die ihr Publikum halb kläglich, halb vorwurfsvoll einladen, ihre eigene Rolle in einem größeren System zu konfrontieren und davon zu lernen? Vermutlich liegt es an der Ernsthaftigkeit, mit der tiefgründige Archivforschung und Artefakte eingesetzt werden. Es ist auch dem fokussierten Konzept zu verdanken, das ein klares Argument über Kolonialismus und Rassismus als Instrumente der Machtgewinnung verfolgt. Und schlussendlich wird Interaktion durch die ganze Ausstellung hinweg gefördert, mit den vielen direkten «Notizen», durch Klammertexte und Glossar, an Besucher:innen: Wir werden also als Mitdenker:innen ernst genommen und es wird uns eine komplexe Argumentationsweise zugerechnet. In der Ausstellung Kolonial stehen Diskussion und Debatte als dekolonialisierende Praxen deutlich im Vordergrund.

(Hella Wiedmer-Newman)

Kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz, Landesmuseum Zürich, 13.09.2024 - 19.01.2025.