Review: Henri Matisse – Einladung zur Reise

Larissa Dätwyler, Elena Degen, Laura Indorato, Simon Lindner, Katrin Pirner, May 2025, 13 min. reading time

Larissa Dätwyler Luxe, calme et volupté – so lautet nicht nur eine Zeile aus Charles Baudelaires Gedicht L’Invitation au voyage (1857), sondern auch der Titel eines wegweisenden Gemäldes (1904) von Henri Matisse (1869–1954), das sich am Neoimpressionismus abarbeitete und letztlich daran scheiterte. Die Fondation Beyeler hat dieses Werk zum Ausgangspunkt einer retrospektiven Einladung zur Reise (kuratiert von Raphaël Bouvier) durch das Œuvre des französischen Künstlers gewählt. Allerdings bleibt die Frage bestehen, wohin eine solche Reise durch mehrere Jahrzehnte der künstlerischen Arbeit die Betrachtenden eigentlich entführt. Ausgehend von unseren eigenen Forschungsschwerpunkten möchten wir die Ausstellung als Gelegenheit nutzen, um aktuelle Perspektiven auf Matisse anzudenken, wobei die Frage nach dem Eskapismus, der in Luxe, calme et volupté anklingt, als übergreifendes Leitthema dienen soll.

Kurz nach Matisse’ Tod und nur wenige Jahre nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs hat Roland Barthes 1955 im Rahmen seiner Mythologies (erschienen in Les Lettres Nouvelles) den Vorwurf einer oberflächlichen, beschönigenden Kunst fern jeglicher sozialpolitischen Realität polemisiert. Die wiederkehrende Kritik an Matisse’ Hedonismus lässt sich etwa anhand des titelgebenden Werks Luxe, calme et volupté der Riehener Retrospektive nachvollziehen: Badende geniessen die wärmenden Sonnenstrahlen an der Küste Südfrankreichs, die sich in eine verführerische Szenerie der Idylle wandelt. Matisse führt die Betrachtenden in eine mythologische Welt der Venus, Göttin der Liebe und der Schönheit – also eine ideale Welt, in der Harmonie, sinnlicher Genuss und Luxus vorherrschen. Bis heute wird Matisse’ künstlerisches Erbe vorrangig vor dem thematischen Hintergrund von Glück, farbenfrohem Überfluss, imaginärem Frieden und sinnlicher Wollust besprochen. Dieselben Eindrücke haben aber auch kritische Stimmen wie diejenige Barthes’ zur Feststellung geführt, dass es sich bei der Bilderwelt von Henri Matisse nicht um eine blosse Einladung zur Reise, sondern um eine regelrechte Flucht in eine illusorische, bürgerliche Umgebung des Luxus handelt – eine Flucht, die ihre Augen vor der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit und weltpolitischen Krisen verschliesst.

Bei einem Gang durch die Ausstellung werden wir Zeug*innen von Matisse’ selbstreferentieller Versenkung in seine künstlerische Arbeit. Sie hat mehrheitlich in seinen Hotelzimmern oder Atelierräumen stattgefunden und kommt einer Isolation von der Umwelt gleich. Odaliskendarstellungen reproduzieren orientalistische Fantasien exotischer Verführung, während die Atelierinterieurs ein theatralisch inszeniertes Leben inmitten einer Kulisse aus Stoffen, Möbeln und Spiegeln wiedergeben. Bei der Betrachtung der Bilddetails – und vor dem Hintergrund von T. J. Clarks Lektüre in If These Apples Should Fall – kommt allerdings auch die Frage auf, ob und wie historische Ereignisse, Zustände und Erfahrungen sich in solchen Werken dennoch unterschwellig zu materialisieren vermögen, auch wenn sie auf bildinhaltlicher Ebene kaum explizit darauf Bezug nehmen. Sind in Matisse’ Œuvre also auch Ansätze erkennbar, die der rein hedonistischen Deutung eine kritische Wendung verleihen?

Henri Matisse, Odalisque au fauteuil noir, 1942, Öl auf Leinwand, 38 x 46 cm. Bildnachweis: Ausst.-Kat., Matisse. Einladung zur Reise, Fondation Beyeler, 22.09.2024‒26.01.2025, hg. v. Raphaël Bouvier, Riehen/Basel/Berlin 2024, S. 175.

Simon Lindner Wie Du sagtest, Larissa, stellen Matisse’ Odaliskendarstellungen eine Werkgruppe dar, die mit dem Eskapismus-Vorwurf belegt werden kann. Als Odalisken werden Haremsfrauen mit weißer Hautfarbe bezeichnet, sie waren ein beliebter Bildgegenstand in der orientalistischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Der Harem, das sind die Wohnräume der weiblichen Familienangehörigen, war in islamischen Kulturen weitgehend von der Außenwelt abgeschlossen und speziell für fremde Männer unzugänglich. Die strikte Grenze zwischen Männer- und Frauengesellschaft, die der Harem architektonisch errichtet, hielten Frauen durch ihre Verschleierung auch in der Öffentlichkeit aufrecht. Nur innerhalb des Harems durften sie sich unverschleiert aufhalten. Dieser Entzug wurde von europäischen (männlichen) Reisenden zusätzlich erotisch aufgeladen und veranlasste sie zu fantasievollen Darstellungen. Speziell das imaginäre Durchdringen der sozialen wie ästhetischen Membran, die den Harem umgab, machte den Reiz der orientalistischen Darstellungen aus. Diese Grenzüberschreitung kann als gefährlicher Austritt aus der Realität und Missachtung sozialer Verhältnisse, kurz: als Eskapismus, verstanden werden.

Hinzu kommt, dass die Odaliske mit ihrer weißen Hautfarbe für den rassistisch diskriminierenden Blick vieler Europäer auf den sogenannten Orient eine Auffälligkeit darstellte. Denn dieser Blick ordnete Hautfarben bestimmten Kulturen oder geographischen Regionen zu; eine weiße Frau müsste demnach eigentlich zu Europa gehören. Bei einem näheren Blick auf die in der Retrospektive ausgestellten Odaliskenbilder finden sich Anzeichen dafür, dass Matisse die orientalistische Ikonographie in ein europäisches Interieur, vermutlich in seine eigenen Wohnräume, verlagert hat. Wie der Titel Odalisque au fauteuil noir schon verrät, sitzt die Frauenfigur auf einem schwarzen Sessel (fauteuil noir), wie er eher in Europa zu erwarten wäre. Bei der «Odaliske» im Bild könnte es sich also gut um ein französisches Modell handeln, das für Matisse in die Rolle der exotischen Verführerin schlüpfte. Matisse sammelte bekanntlich Stoffe, Kleider und andere Objekte aus dem Nahen Osten, die er für so ein Rollenspiel als Requisiten heranziehen konnte.

Der Bruch, den der schwarze Sessel in das Klischeebild eines Harems setzt, vertieft sich, wenn man Matisse’ Malweise in den Blick nimmt. Denn anders als die orientalistischen Maler des 19. Jahrhunderts, die mit feinmalerischem Aufwand auf visuellen Realismus abzielten, versucht Matisse nicht die Bildhaftigkeit seiner Produktion zu überspielen. Er setzt keine Schattierung ein, um Volumen und räumliche Tiefe zu modellieren. Dadurch erscheint der Bildraum extrem verflacht. Der höchste Grad an Modellierung findet sich bei der Vase auf dem grünen Tisch: Die linke Seite ihres Bauches ist leicht verschattet und links davon ist ein dezenter Schatten auf der Tischplatte erkennbar. Im Fall der Odaliske enthielt sich Matisse dagegen jeder Modellierung, die etwa auf die Körperlichkeit der Frau schließen lassen könnte. Außerdem besteht die Palette insgesamt aus sehr wenigen Farben: Vorherrschend sind Schwarz sowie die Grundfarben Rot, Blau und Gelb, Verdünnungen derselben und Vermischungen zu Grün und Orange. Auch die Konturen der Bildgegenstände fasste der Maler lediglich summarisch zusammen.

Diese Offenlegung der malerischen Mittel ließe sich als ein Bekenntnis zur Bildhaftigkeit der Odaliskendarstellung deuten. Matisse nimmt, so gesehen, das eskapistische Motiv zum Anlass, um auf sehr subtile Weise an die Künstlichkeit der orientalistischen Fantasieprodukte zu erinnern. Anstatt die Verschleierung mit den Mitteln des Realismus durchzuschneiden und ein grenzverletzendes Eindringen in die Räume islamischer Kulturen zu reproduzieren, restauriert Matisse jene ästhetische Grenze, die den Harem gegen fremde Blicke abschirmt. Zu dieser Bildkritik kommt er auf dem Wege eines verspielten Umgangs mit Oberflächen und Farben, dessen Hedonismus schwer zu bestreiten ist.

Henri Matisse, La grande robe bleue, 1937, Öl auf Leinwand, 92,7 x 73,7 cm. Bildnachweis: Ausst.-Kat., Matisse. Einladung zur Reise, Fondation Beyeler, 22.09.2024‒26.01.2025, hg. v. Raphaël Bouvier, Riehen/Basel/Berlin 2024, S. 167.

Katrin Pirner Die nun für die Odaliskenbilder aufgestellte These zum Wiederaufbau der ästhetischen Grenze scheint mir ein spannender Ausgangspunkt um über andere, im selben Raum ausgestellte, Bilder aus den späteren 1930er und 40er Jahren nachzudenken. Die Bilder La grande robe bleue et mimosas (1937), Intérieur rouge (1947) und Intérieur au rideau égyptien (1948) zeichnen sich ebenfalls durch eine reduzierte Palette aus und ziehen durch die kräftigen Farben schon aus einiger Entfernung die Aufmerksamkeit auf sich. Doch auch sie laden nicht zu einer fiktiven Positionierung im Bildraum ein. Die Buntheit und die starken Kontraste wirken gerade nicht gemütlich – das grelle Rot und die kräftigen schwarzen Zick-Zack-Linien vom roten Interieurbild, die die räumliche Differenz von Wand und Boden nivellieren, ziehen zwar in den Bann, wehren aber auch ab, die roten Früchte werden einem durch den blauen Tisch entgegengedrückt, drohen dabei aber abzugleiten. Der senkrecht emporragende Blumenstrauß bietet Halt in dem instabilen Innenraumgefüge und leitet unseren Blick nach draußen. Der vermeintlich wohltuende Blick in den Garten wird jedoch nicht nur durch das Fenster, sondern durch die Fortsetzung des rot-schwarzen Musters gerahmt und dabei der Komposition des Stilllebens angeglichen. Eine Resonanz, die durch Farben und Pinselführung hergestellt wird. Das Stillleben dient nicht der Naturalisierung des Wohnraums, sondern vermittelt als künstliches Arrangement unseren Blick auf die vegetative Außenwelt. Ähnlich das Prinzip des titelgebenden ägyptischen Vorhangs des zweiten Interieurbildes, der den Blick nach draußen zwar freigibt, dabei aber die Palme seiner ornamentalen Logik unterwirft, wozu auch das Fensterkreuz beiträgt.
Während beide Innenräume keine Figuren beherbergen und die Möglichkeit dazu ausschlagen, steht im Bild von 1937 eine Frau in einem ausladenden blauen Kleid im Mittelpunkt. Das vielfach überarbeitete Bild stellte diese, wie die Fotografien des Malprozesses zeigen, zunächst entspannt auf einer kleinen Bank sitzend und seitlich lehnend dar, im Hintergrund ein Blumenstrauß und ein Fenster. War das Bild anfangs zwischen Porträt und Interieurszene angesiedelt, wurden beide Kategorien zunehmend durch das unnachgiebige Abschaben der Illusion entleert. Durch die Konzentration auf die Primärfarben, Stilisierung bzw. Vereinfachung der Formen, Flächigkeit und bildsymmetrische Komposition verliert die Darstellung alles Ungezwungene und lässt die Figur in ihrer Pose erstarren. Das eigens zum Posieren angefertigte Kleid wird überdeutlich zu einer steifen Hülle, aus der der entindividualisierte Kopf nur mehr wie ein Strauß Blumen aus einer Vase ragen kann. Das Zumauern des Fensters und Ersetzen durch die Referenz auf die eigene Zeichentätigkeit, die wiederum das Bild als Ganzes bestimmt, scheint die logische Konsequenz dieser medienreflexiven Eskapade.

Henri Matisse, La fenêtre ouverte, 1905, Öl auf Leinwand, 55,3 x 46 cm. Bildnachweis: Ausst.-Kat., Matisse. Einladung zur Reise, Fondation Beyeler, 22.09.2024‒26.01.2025, hg. v. Raphaël Bouvier, Riehen/Basel/Berlin 2024, S. 45.

Elena Degen Trotz der thematischen Verschiedenheit der letzten beiden Inputs, finde ich faszinierend, wie oft sich die unterschiedlichen Aspekte in Matisse’ Werk wiederholen. Die bereits angesprochenen Themen von Orientalismus, Matisse’ Interesse an Stoffen, aber auch seiner (zum Teil damit zusammenhängenden) dekorativen Gestaltung der Leinwand und die Verschränkung von Innen- und Aussenraum sind schliesslich Schwerpunkte seiner Kunst, die ihn schon sehr früh beschäftigen. Auf einer, wenn man so will, fluchtartigen Reise in den Süden Frankreichs – die auch sehr pragmatisch mit dem sich ausweitenden Bahnnetz und der Erkundung von touristisch weniger besuchten Orten des Landes gedacht werden kann – entdeckte Matisse 1905 erstmals den kleinen Fischerort Collioure nahe der spanischen Grenze. Das in jenem Sommer entstandene Werk Fenêtre ouverte zeigt metaphorisch und bildlich, wie greifbar nah das Mittelmeer plötzlich für die Pariser Bevölkerung zu sein scheint, die sowohl die Landschaft im Nu bereisen, wie auch das Werk im Salon d’Automne 1905 betrachten können. Diese Nähe ist jedoch auch bildlich festzustellen: Statt die drei Räume – Hotelzimmer, Balkon, Meer – in ihrer tatsächlichen räumlichen Staffelung auszuarbeiten, bringt Matisse die Ebenen so zusammen, dass sie alle auf der Oberfläche der Leinwand zusammentreffen. Trotz dieser bildimmanenten Flächigkeit, fällt auf, wie jeder der drei Abschnitte mit einem unterschiedlichen Farbauftrag gehandhabt wurde; die noch pastos aufgetragene Farbe der Türrahmen und Innenwände verwandelt sich in punktartige Tupfer, die in der Darstellung der Blumentöpfe des Mittelgrundes dominieren, bevor sie in den Segelbooten und der Meeransicht zu wellenartigen Linien verfliessen. Auffällig ist dabei nicht nur der den jeweiligen Abschnitten passende Pinselduktus, sondern auch die Art und Weise, wie Matisse die Farbe und deren nachfühlbare Gestik auf die Leinwand bringt und so der dick aufgetragenen Farbe eine eigene Dreidimensionalität verleiht. Die Pinselstriche fliessen ineinander und setzen auf der Leinwand eine visuelle Energie frei, die mit der Einbindung aller Elemente in einem natürlichen Energiefluss korrespondiert. Denn Matisse erlebte in Collioure nicht nur einen produktiven Sommer, in dem er zu einem neuen Malstil fand, sondern genoss auch den ländlichen Alltag, die Verbindung zur Natur und die Freiheit eines naturistischen Lebensstils, die sich folglich in seiner Malerei bemerkbar macht. Das mediterrane Licht und die dortige Lebensweise führte Matisse zu einem neuen Umgang mit Farbe und Licht auf der Leinwand, die ihm die Grundlage für sein weiteres Schaffen bot. Die Reise in den Süden Frankreichs, die er ab diesem Sommer regelmässig unternahm, war folglich nicht nur eine lokale Verschiebung von Paris nach Collioure, sondern bedeutete für Matisse schlussendlich ein Ankommen bei sich selbst, das erst den Aufbruch in die weiteren Etappen seines Schaffens ermöglichte.

Henri Matisse, La chaise aux pêches, um 1918, Öl auf Leinwand, 130 x 90 cm. Bildnachweis: Ausst.-Kat., Matisse. Einladung zur Reise, Fondation Beyeler, 22.09.2024‒26.01.2025, hg. v. Raphaël Bouvier, Riehen/Basel/Berlin 2024, S. 137.

Laura Indorato Die von Larissa eingangs aufgegriffene Versenkung von Matisse in die eigene künstlerische Arbeit, die Elena mit seinen wiederholten Aufenthalten in den Süden Frankreichs veranschaulicht, legen das Motiv der Flucht als vornehmlich individuellen Ausbruch aus der Gegenwart dar. In der Verarbeitung historischer Ereignisse wie insbesondere der Erste Weltkrieg, an welchem Matisse aufgrund seines Alters nicht teilnehmen durfte, zeigen sich jedoch auch Tendenzen einer kollektiven Flucht, die die Kunstgeschichte und allen voran die amerikanische Kunsthistorikerin Romy Golan unter dem Begriff der „Rappel à l’ordre“ eingehend diskutiert haben. Als solchen werden konservative Strömungen in der französischen Kunst beschrieben, die als Reaktion auf die Avantgarde verstanden werden. Diese drücken sich z.B. in der Wiederaufnahme traditioneller Gattungen in der Malerei aus und gehen mit einem vermehrt figurativen Anspruch an das Medium einher. 

Bezeichnend hierfür ist auf La chaise aux pêches (1919) hinzuweisen, das in der Fondation Beyeler zu sehen war. Das Stillleben zeigt drei Pfirsiche auf einem weissen Teller mit ornamentiertem Rand, den Matisse auf einem Stuhl, einer sogenannten „chaise Lorraine“, positioniert hat. Während Matisse die Rückenlehne und die Sitzfläche vor einem ornamentalen Grund besonders flächig dargestellt hat, zeichnen sich die Früchte durch ein hohes Mass an Plastizität aus: Sie werfen nicht nur einen Schatten auf den weissen Teller; es ist vor allem die pelzige Beschaffenheit ihrer Oberfläche, die ein eingehendes Studium am Objekt suggerieren. Pfirsiche sind in der Malereigeschichte insbesondere bei Chardin und Manet bekannt, vor allem jedoch bei Renoir, den Matisse 1917 in Cagnes-sur-Mer in unmittelbarer Nähe zu Nizza besuchte. Für das „Rappel à l’ordre“ sind solche Bezüge auf die französische Kunsttradition charakteristisch für die Erinnerung an eine unversehrte Zeit vor dem Krieg, die insbesondere Renoir mit seinen weichen Formen und warmen Farben anregt.

La chaise aux pêches eröffnet aber gerade durch seine bildlichen Gegensätze eine kritische Haltung auf diese behagliche Kunst: Der Stuhl lädt kaum dazu ein, darauf Platz zu nehmen, vermittelt doch seine leicht verschobene Sitzfläche den Eindruck, sich dagegen zu wehren; auch die unregelmässig ausgeführten Konturen von Teller und Stuhl deuten auf eine Inkongruenz von Plastizität und Flächigkeit, die von dem nahtlosen Übergang zwischen der Toile de Jouy und dem grauen Fussboden zusätzlich hervorgehoben wird. Das aus dem unteren Bildrand herausragende Stuhlbein ist aber das endgültige Indiz, das uns zu indizierten Betrachtenden macht. So sehr das „Rappel à l’ordre“ auf eine Kunst verweist, die von besseren Tagen und einem Traditionsbewusstsein träumte, so sehr schliesst es auch diejenigen ein, die nicht Teil dieser „gemeinsamen“ Malereigeschichte waren: in Paris immigrierte und tätige, nicht-französische Künstlerinnen und Künstler, die die damalige Kunstkritik unter dem Begriff der „Ecole de Paris“ zusammenfasste und trennte. Als etablierter Künstler dürfte sich Matisse dieser zunehmend feindlichen Gesinnung gegenüber Kolleginnen und Kollegen bewusst gewesen sein. La chaise aux pêches kann damit nicht nur als Flucht in die Malereigeschichte, sondern durchaus auch als Unbehagen gegenüber diesen ausgrenzenden Entwicklungen gelesen werden, von welchen die Gegensätzlichkeiten im Bild zeugen.

 

Matisse ‒ Einladung zur Reise, Fondation Beyeler, 22. September 2024 bis 26. Januar 2025.