Larissa Dätwyler Luxe, calme et volupté – so lautet nicht nur eine Zeile aus Charles Baudelaires Gedicht L’Invitation au voyage (1857), sondern auch der Titel eines wegweisenden Gemäldes (1904) von Henri Matisse (1869–1954), das sich am Neoimpressionismus abarbeitete und letztlich daran scheiterte. Die Fondation Beyeler hat dieses Werk zum Ausgangspunkt einer retrospektiven Einladung zur Reise (kuratiert von Raphaël Bouvier) durch das Œuvre des französischen Künstlers gewählt. Allerdings bleibt die Frage bestehen, wohin eine solche Reise durch mehrere Jahrzehnte der künstlerischen Arbeit die Betrachtenden eigentlich entführt. Ausgehend von unseren eigenen Forschungsschwerpunkten möchten wir die Ausstellung als Gelegenheit nutzen, um aktuelle Perspektiven auf Matisse anzudenken, wobei die Frage nach dem Eskapismus, der in Luxe, calme et volupté anklingt, als übergreifendes Leitthema dienen soll.
Kurz nach Matisse’ Tod und nur wenige Jahre nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs hat Roland Barthes 1955 im Rahmen seiner Mythologies (erschienen in Les Lettres Nouvelles) den Vorwurf einer oberflächlichen, beschönigenden Kunst fern jeglicher sozialpolitischen Realität polemisiert. Die wiederkehrende Kritik an Matisse’ Hedonismus lässt sich etwa anhand des titelgebenden Werks Luxe, calme et volupté der Riehener Retrospektive nachvollziehen: Badende geniessen die wärmenden Sonnenstrahlen an der Küste Südfrankreichs, die sich in eine verführerische Szenerie der Idylle wandelt. Matisse führt die Betrachtenden in eine mythologische Welt der Venus, Göttin der Liebe und der Schönheit – also eine ideale Welt, in der Harmonie, sinnlicher Genuss und Luxus vorherrschen. Bis heute wird Matisse’ künstlerisches Erbe vorrangig vor dem thematischen Hintergrund von Glück, farbenfrohem Überfluss, imaginärem Frieden und sinnlicher Wollust besprochen. Dieselben Eindrücke haben aber auch kritische Stimmen wie diejenige Barthes’ zur Feststellung geführt, dass es sich bei der Bilderwelt von Henri Matisse nicht um eine blosse Einladung zur Reise, sondern um eine regelrechte Flucht in eine illusorische, bürgerliche Umgebung des Luxus handelt – eine Flucht, die ihre Augen vor der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit und weltpolitischen Krisen verschliesst.
Bei einem Gang durch die Ausstellung werden wir Zeug*innen von Matisse’ selbstreferentieller Versenkung in seine künstlerische Arbeit. Sie hat mehrheitlich in seinen Hotelzimmern oder Atelierräumen stattgefunden und kommt einer Isolation von der Umwelt gleich. Odaliskendarstellungen reproduzieren orientalistische Fantasien exotischer Verführung, während die Atelierinterieurs ein theatralisch inszeniertes Leben inmitten einer Kulisse aus Stoffen, Möbeln und Spiegeln wiedergeben. Bei der Betrachtung der Bilddetails – und vor dem Hintergrund von T. J. Clarks Lektüre in If These Apples Should Fall – kommt allerdings auch die Frage auf, ob und wie historische Ereignisse, Zustände und Erfahrungen sich in solchen Werken dennoch unterschwellig zu materialisieren vermögen, auch wenn sie auf bildinhaltlicher Ebene kaum explizit darauf Bezug nehmen. Sind in Matisse’ Œuvre also auch Ansätze erkennbar, die der rein hedonistischen Deutung eine kritische Wendung verleihen?