Review: 60. Biennale in Venedig

Elena Borer, February 2025, 10 min. reading time

Kanon

Foreigners everywhere lautet der Titel der 60. Biennale von Venedig.Ich hatte die Gelegenheit, die Biennale im Rahmen einer Exkursion der Universität Basel im Oktober 2024 unter der Leitung von Prof. Dr. Markus Klammer und Sarah Wiesendanger zu besuchen. Mit rund 700’000 verkauften Tickets und einem markanten Anstieg an jüngeren Besucher*innen gehört sie zu den bisher bestbesuchten Biennalen.«https://www.labiennale.org/en/news/biennale-arte-2024-closes-700000-tickets-sold», letzter Zugriff 9.12.2024. Die Biennale stellt sich in eine Geschichte kuratorischer Ansätze, die derartige Grossausstellungen als weiterhin kanonisierende Institutionen verstehen und sie dementsprechend kuratorisch anders angehen.Ein bedeutender Anstoss dazu war die von Okwui Enwezor kuratierte documenta 11. Aber wie schreibt man einen Kanon um? Welcher Verschiebungen bedarf es, um Übersehenes sichtbar zu machen? Was kann Kuration hier leisten?

Adriano Pedrosa, Kurator der 60. Biennale und des MASP in São Paulo, wählte die Arbeit Foreigners everywhere des Künstler*innenkollektivs Claire Fontaine als programmatischen Titel.Die Arbeit besteht aus zahlreichen von Neonröhren geformten Schriftzügen, die in verschiedene Sprachen übersetzt sind. Verteilt über das gesamte Biennale-Gelände, sind sie immer wieder anzutreffen. Nach Pedrosa enthält dieser Titel nämlich vier Dimensionen des Fremden, zwei scheinen mir besonders relevant: 1. dass wir überall auf Fremde treffen und 2. dass wir tief in uns, uns selbst fremd sind.Die dritte und vierte Bedeutungsdimension sieht Pedrosa darin, dass es in der Gastgeberstadt Venedig mehr Fremde als Einheimische gibt und dass der Titel eine Art Ausruf der Angst oder der Freude ist. Siehe Adriano Pedrosa, Foreigners Everywhere: Biennale Arte 2024. Venezia 2024, S. 48. Die erste Konnotation realisiert Pedrosa durch das Auswahlkriterium für die Identität der Künstler*innen: Emigrant*innen/ Immigrant*innen, Queers, Outsider-Künstler*innen und Indigene.Neben Im- und Emigrant*innen fasste Pedrosa auch u.a. Expatriierte, Menschen in der Diaspora, Exilierte und Geflüchtete zusammen; unter Queers verstand er alle, welche sich nicht in ein binär-heteronormatives System einpassen lassen; unter Outsider-Künstler*innen Autodidakt*innen und sog. Volkskünstler*innen; unter Indigenen schliesslich diejenigen, welche in ihrem eigenen Land oft wie Fremde behandelt werden. Siehe Adriano Pedrosa, Foreigners Everywhere: Biennale Arte 2024. Venezia 2024, S. 68 ff. Zudem ist ein Grossteil der Biennale den Werken bereits verstorbener Künstler*innen gewidmet mit der Begründung, dass die Zukunft massgeblich von unserem Verständnis der Vergangenheit abhängt und unser Begriff von Vergangenheit der Pluralisierung bedarf. Marginalisierte Künstler*innen bekommen somit die Bühne. Das vom Kanon bisher Ausgeschlossene wird für sechs Monate zum ‹Zentrum›. Die meisten Positionen sind dem Biennale-Stammpublikum also neu.

Pedrosa organisiert die Werke der insgesamt 331 Künstler*innen entlang von zwei Kernbereichen, die er «nucleos» nennt. Im nucleo storico im zentralen Pavillon der Giardini stellt er Werke bereits verstorbener Künstler*innen in drei Unterkategorien aus: dem Portrait, den Abstraktionen und der italienischen Diaspora. Im nucleo contemporaneo, der auf den zentralen Pavillon und die Arsenale verteilt ist, stellt er mehrheitlich Werke von noch lebenden Künstler*innen aus. Im Folgenden möchte ich anhand von Räumen im nucleo storico und im nucleo contemporaneo die kuratorische Strategie von Pedrosa genauer untersuchen.

In zwei Räumen des nucleo storico, dem Herzstück des zentralen Pavillons, befinden sich zahlreiche Portraits von Künstler*innen, die in ihren jeweiligen Ländern zwar berühmt, dem westlichen Kanon aber weitgehend unbekannt waren. Die Portraits, die im späten 19. und 20. Jahrhundert – in der kunsthistorischen Moderne – entstanden sind, bespielen nicht nur wie üblich die horizontale, sondern auch die vertikale Dimension der Wände. Pedrosa demonstriert damit Quantität. Die schiere Anzahl an Werken führt auf diese Weise affektiv aus dem realen Raum heraus und in einen Meta-Raum übersehener Kunstwerke hinein. Das allein in diesem Raum gezeigte Ausmass dessen, was der Kanon übersehen hat, ist überwältigend und beschämend.

Portraits im Nucleo Storico, zentraler Pavillion Foto: Elena Borer, 2024.

So überwältigend die Hängung der Portraits auch ist, so suggeriert sie in ihrer panoptischen, auch die Vertikale einnehmenden Anordnung doch eine gewisse Überschaubarkeit. Ohne sich gross bewegen zu müssen, kann man beinahe den ganzen Raum überblicken. Zudem kommt das Genre der Portraitmalerei den am europäischen Kanon gebildeten Besucher*innen vertraut vor. Aber der durchdringende, appropriierende Blick scheitert an den einzelnen Werken. Die Stile sind divers, die Motive unverfügbar. Unverfügbar deshalb, weil die Portraitierten selten als Akte, nie als Objekte und immer mit Würde und agency dargestellt wurden. Keine entblössten, objektivierten Frauenakte, wie in der westlichen Moderne. Gelegentlich werden anhand einzelner Werke kanonisch-kunsthistorische Assoziationen evoziiert. Etwas Kubistisches hier, etwas Matissehaftes dort. Allerdings sind die Werke so verteilt, dass sich diese Assoziationen weder durchziehen und verstärken, noch an einem vergleichenden Blick festhalten und damit den europäischen Modernismus als Leitmotiv iterieren. Die Spezifik der Werke verlangt vielmehr nach einer singulären und aufmerksamen Betrachtungsweise. Sie entziehen sich eurozentrisch-modernistischer Interpretationsmuster. Die vermeintlich zentralen und überschauenden Betrachter*innen werden dadurch, um mit Claire Bishop zu sprechen, dezentriert, befremdet und damit ästhetisch und auch politisch aktiviert.Claire Bishop, Installation Art. A Critical History. London 2005, S. 102 ff. Dies führt zu einer Konfrontation mit ebendieser eurozentrischen Sozialisierung und zu einer Verunsicherung, die auch das fragwürdige Erbe der westlichen Moderne betrifft: das zentriert-souveräne, homogene Subjekt und einen damit verbundenen ideologisch-kolonialen Universalismus, der alles einzuordnen weiss.

In ihrer Abhandlung Installation Art differenziert die Kunsthistorikerin Claire Bishop das betrachtende Subjekt in ein model subject und einen literal viewer.Claire Bishop, Installation Art. A Critical History. London 2005, S. 133 ff. Einerseits sind wir das (modellhafte) Subjekt, mit dem der/die Installationskünstler*in rechnet, andererseits sind wir in der Art des Betrachtens unvorhersehbar, nicht zuletzt auch uns selbst gegenüber. Obgleich sich Pedrosas Kuration nicht den Kriterien der Installationskunst im engeren Sinne unterordnen lässt, kann man sie dennoch als installativ bezeichnen. Denn die Anordnung der Werke zielt darauf ab, ein souveränes, panoptisches Subjekt (model subject) zu adressieren und dessen Selbstsicherheit dann durch die Erfahrung der Unverfügbarkeit der einzelnen Kunstwerke zu konfrontieren (literal viewer). Diese Erfahrung führt zu einer Selbstbefremdung und hat zugleich eine animierenden Wirkung, die eine genauere Betrachtung der Werke nach sich zieht. Neben dieser Erfahrung dezentrieren auch die Saalschildern. Die indizierten Standorte der Leihmuseen weisen allesamt aus Europa hinaus, was das sogenannte Zentrum der Kanonbildung auch topografisch in Frage stellt.

Portraits im Nucleo Storico, zentraler Pavillion Foto: Elena Borer, 2024.

In dem ebenfalls im zentralen Pavillon installierten nucleo contemporaneo sticht ein Raum besonders hervor. Als horizontales Band ziehen sich 13 Werke von Joseca Mokahesi Yanomami und 18 Werke von André Taniki Yanomami, zwei Künstler der indigenen, im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet beheimateten Yanomami, durch einen Raum. Abwechseln darüber und darunter sind Schwarz-Weiss-Fotografien der in der Schweiz geborenen Fotografin Claudia Andujar angebracht. Die Grösse und die kontrapunktische Platzierung von Andujars Fotografien ziehen den Blick an und leiten ihn weiter auf die Werke der beiden Yanomami-Künstler, welche nicht nur quantitativ in der Überzahl sind, sondern durch die kontemplative Hängung auch den Raumtenor vorgeben. Dadurch dreht Pedrosa das oft angewandte quantitative Verhältnis der Repräsentation von indigenen und westlichen Künstler*innen um.

Zeichnungen von André Taniki Yanomami und Fotografien von Claudia Andujar im Nucleo Contemporaneo, zentraler Pavillon. Foto: Elena Borer, 2024.

Die Arbeiten der drei Künstler*innen spielen ineinander und ergänzen sich gegenseitig so, dass sich ihre Verschiedenheit erst auf den zweiten Blick erschliesst. Denn die drei Positionen entstammen nicht nur unterschiedlichen Sozialisierungshintergründen, sondern auch unterschiedlichen Wissenssystemen. Die mehrheitlich mit Filzstift auf sogenannten paper skins dargestellte, Kosmografien des Schamanen André Taniki Yanomami, mit ihren disparat angeordneten Gegenständen, Tieren, gestikulierenden Menschen und dimensional verschränkten Flächen drücken unter anderem die Erfahrung und Perspektive der xapiri, der Geister der Yanomami-Epistemologie, aus.Adriano Pedrosa, Foreigners Everywhere: Biennale Arte 2024. Venezia 2024, S. 416. Die begleitenden Arbeiten von Claudia Andujar versuchen, die schamanischen Rituale der Yanomami im Medium der Fotografie einzufangen und ihre atmosphärische Spezifik darzustellen. Der Fokus von Andujars Arbeit liegt auf den vielen Sprenkeln und Kegeln aus Licht, mit denen sie eine europäische Assoziation von Spiritualität und Licht aufgreift und zugleich über diese hinausweist. Ihre Sprache des fragmentarischen Lichts verweist auf die disparaten Figuren von Taniki Yanomami und wird zu einer Art epistemisch-medialer Übersetzung. Die Zeichnungen von Taniki und Mokahesi Yanomami ihrerseits gehen bei genauer Betrachtung immer mehr in den Fotografien Andujars auf. So spiegelt sich auf formaler und auch kuratorischer Ebene die innig freundschaftliche und politisch-emanzipatorische Beziehung zwischen Andujar und Taniki Yanomami, Mokahesi Yanomami sowie anderer Yanomami.

Zeichnungen von André Taniki Yanomami und Fotografien von Claudia Andujar im Nucleo Contemporaneo, zentraler Pavillon. Foto: Elena Borer, 2024.

Diese Verständigung geht sowohl von persönlichen Beziehungen als auch von einer kommunizierenden und potenziell übersetzbaren Formalästhetik aus, als ein solches Kommunikationsmedium wurden die Werke von Andujar und Taniki Yanomami zwischen den beiden auch genutzt. Claudia Andujar suchte die Yanomami nicht lediglich zum Zweck der Dokumentarfotografie auf, sondern setzte sich als ally in intensiver Zusammenarbeit und Freundschaft mit Personen der Yanomami, wie beispielsweise Davi Kopenawa Yanomami, unter anderem für die Demarkation des Yanomami-Territoriums sowie eine Festlegung der Rechte für die Yanomami ein. Im Zuge der Zusammenarbeit entstanden auch die Filzstiftzeichnungen von André Taniki Yanomami, der zum ersten Mal auf Papier malte. Die Zeichnungen wie auch Andujars Fotos wurden zur medialen Gesprächsgrundlage zwischen den Yanomami und den napë, was Fremde auf Yanomami bedeutet.Siehe Adriano Pedrosa, Foreigners Everywhere: Biennale Arte 2024. Venezia 2024, S. 416 und Davi Kopenawa und Bruce Albert, Der Sturz des Himmels. Berlin 2024, S. 77 ff.

Ein wichtiges Auswahlkriterium für die 60. Biennale ist identitätspolitischer Natur. Deswegen wurde Pedrosa oft vorgeworfen, dass die Kunst zu kurz käme, und dass Kuration und Kunst auseinanderklaffen. Dementsprechend halten sich die meisten Rezensionen bei den besagten Auswahlkriterien auf und besprechen weder die kuratorische Strategie noch die Werke spezifisch. Tatsächlich steht in einzelnen Räumen die Identität von Künstler*innen ästhetisch unbegründet im Zentrum. Beispielsweise wenn Werke lediglich aus identitätspolitischen Gründen zusammengestellt wurden, etwa weil beide Künstler*innen queer waren/sind, wie im Fall von Romany Evegleigh und Kang Seung Lee. Oder, wenn wie im Beispiel der Brüder Philomé und Sénèque Obin, die Blutsverwandtschaft betont wird, die das Spezifische der einzelnen Werke auflädt, sie dadurch aber ästhetisch verschleiert.

In den meisten Räumen zeigt Pedrosa jedoch nicht nur unbekannte Positionen (die eingangs erwähnte, erste Dimension des Fremden), sondern ermöglicht darüber hinaus eine Erfahrung, in der die Werke selbst und ihre Kuration überraschen, dezentrieren und die Besucher*innen dadurch involvieren (die zweite Dimension des Fremden). Auf diese Weise verschränkt er die identitätspolitischen Auswahlkriterien, die im Hinblick auf strukturelle Marginalisierung durch Kunstinstitutionen und Kanon sinnvoll und wichtig sind, mit einer Kritik am Begriff der Identität an sich. Diese Dekonstruktions- bzw. Dekolonisationsstrategie wird kuratorisch seltener explizit gemacht. Sie de-ontologisiert den Begriff des Fremden als geschlossene Identität und bricht so aus dem eurozentrisch- binären Korsett der Dichotomisierung von Fremd=Alterität und Eigen=Identität aus.

Es ist überflüssig zu erwähnen, dass das Umschreiben eines Kanons sich nicht mit einer einzigen Entscheidung, nicht mit einem heroischen Beitrag, nicht mit einem innovativen Museum, nicht mit einer zeitgemässen Biennale vollzieht. Es ist ein transgenerationales und transkulturelles Projekt, das von sensiblen, disparaten, ambitionierten, mutigen, beharrlichen Entscheidungen, Allianzen, Einladungen, Gesten, und so weiter vorangetrieben wird. Pedrosa ist es gelungen, in verschiedenen Räumen, vor allem aber in den beiden besprochenen, zu zeigen, dass Kuration einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Dezentrierung und Pluralisierung des Kanons leisten kann.

Literatur

Claire Bishop, Installation Art. A Critical History. London 2005.

Davi Kopenawa und Bruce Albert, Der Sturz des Himmels. Berlin 2024.

Adriano Pedrosa, Foreigners Everywhere: Biennale Arte 2024. Venezia 2024.

«https://www.labiennale.org/en/news/biennale-arte-2024-closes-700000-tickets-sold», letzter Zugriff 9.12.2024.