Interview: Zwischen Bildern und Sinnen, Bildwissenschaft und Anthropologie

Philippe Cordez, January 2025, 29 min. reading time

Ursprünglich veröffentlicht in englischer Sprache in: M. Bacci, F. Crivello und V. Šcepanovic (Hg.): Images in Premodern Societies. A Dialogue about the State of the Field on the Occasion of the 20th Anniversary of «Iconographica», Florenz: Sismel, 2023 (Iconographica Library, 1), S. 107–115.

Übersetzt von Masha Goldin

1. In den letzten dreissig Jahren standen Bilder im Mittelpunkt verschiedener Forschungsperspektiven und spielten eine zentrale Rolle in den vielen akademischen Bewegungen oder ‚turns‘, die versuchten, das Fach der Kunstgeschichte insgesamt methodisch neu zu fassen. Können Sie kurz erklären, was Ihr ursprünglicher Forschungsschwerpunkt war und in welche Richtungen sich Ihr wissenschaftlicher Ansatz im Laufe der Zeit entwickelte?

Vor mehr als dreissig Jahren, angefangen als ich ein Kind war und dann während meiner Jugend, lernte ich Zeichnen und Malen in der Werkstatt des Künstlers Denis Godefroy in Rouen, Normandie. Das Unterrichten von Kindern und Erwachsenen, einschliesslich Patienten in einer psychiatrischen Klinik, war für ihn eine Art von nicht nur künstlerischem, sondern auch sozialem Engagement. Sein Verständnis von Bildern war sowohl physisch als auch metaphysisch. In den 70er Jahren hatte er Bilder im Sinne der figuration analytique dekonstruiert und in den 80er Jahren lud er seine Kunst mit Material, Gestik, Technik, Sinnlichkeit und Emotion wieder auf.Laurent Salomé et al., Denis Godefroy: 1949-1997, Ausst.-Kat. Rouen, Musée des Beaux-Arts, et al., Paris 2003. Er starb 1997. Einige Monate später begann ich, Kunstgeschichte zu studieren.

2002 schloss ich mein Studium an der École du Louvre in Paris ab. Mein Wunsch, Objekte und Bilder unmittelbar in den Museen zu studieren, war für diesen Verlauf ausschlaggebend gewesen. Jedoch fühlte ich mich unwohl mit der weit verbreiteten Sakralisierung der Kunst. Aus diesem Grund war ein weiterer Schwerpunkt meines Studiums am Louvre die Anthropologie europäischer Gesellschaften und Kulturen. Dazu gehörte auch etwas Feldarbeit: Ich widmete mich Bronzegusstechniken im zeitgenössischen Handwerk und in der experimentellen Archäologie. Ein weiteres Interesse von mir war die Museologie, insbesondere anthropologische Museen, die das soziale Leben zeigen und reflektieren. Um die jahrhundertelange europäische Tradition der Aufbewahrung und Bewunderung von sakralisierten Objekten in Institutionen zu erhellen, wandte ich mich für meine Doktorarbeit der historischen Anthropologie zu. Das Ergebnis war mein Buch, das in deutscher Übersetzung unter dem Titel Schatz, Gedächtnis, Wunder. Die Objekte der Kirchen im Mittelalter (Regensburg 2015) veröffentlicht wurde.

2. Bitte nennen Sie bis zu drei Bücher, die für die Orientierung Ihrer Forschung eine wichtige Rolle gespielt haben.

André Leroi-Gourhan, Le Geste et la Parole, 2 vols., Paris 1964–1965 (Hand und Wort: die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 2006)

Symbolische Artefakte und Bilder entstehen gleichzeitig mit der Hominisation. In Frankreich wird Kunstgeschichte daher zusammen mit Archäologie studiert. Diese beiden Bände, mit den Untertiteln Technik und Sprache und Gedächtnis und Rhythmen, sind in der physischen Anthropologie, der prähistorischen Archäologie und der zeitgenössischen Ethnologie verwurzelt. Sie präsentieren eine Theorie menschlichen Verhaltens und kultureller Entwicklung und stellen gleichzeitig eine ökologische Kritik des Modernismus dar. Ich las die Bände im Jahr 2001. Das weckte mein Interesse, Wissenschaftler zu werden. Leroi-Gourhan inspirierte viele Forschungen im Bereich der technologie culturelle, der Anthropologie der Techniken. 2012 versuchte ich, eine Brücke zwischen diesem Forschungsgebiet und der Kunstgeschichte zu schlagen, mit einem Aufsatz und einem Sammelband über Werkzeuge und Instrumente. Das war wichtig für meine folgende Arbeit.

André Desvallées, François Mairesse (ed.), Dictionnaire encyclopédique de muséologie, Paris 2011

Dieses umfassende Handbuch, das vom einschlägigen Komitee des Internationalen Museumsrats (ICOM) herausgegeben wurde, bietet eine Einführung in die Museologie. Zehn Jahre vor der Veröffentlichung, also 2001/2002, studierte ich dieses Fach mit Begeisterung an der École du Louvre. Zu dieser Zeit standen anthropologische und ästhetische Zugänge zur aussereuropäischen indigenen Kunst und Kultur im Zentrum der Debatten über das zukünftige Musée du Quai Branly in Paris (2006 eröffnet). Zudem konzipierte Michel Colardelle in diesen Jahren das Musée national des Arts et Traditions populaires in Paris neu, das 2005 geschlossen und 2013 als Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée in Marseille wiedereröffnet wurde. Angeregt von Ideen der „neuen“ und „kritischen“ Museologie wollte Colardelle die sinnlichen und kognitiven Erfahrungen der Besucher:innen mit den Objekten in den Mittelpunkt stellen und auch Interkulturalität thematisieren. Er war eine Figur der sozialistischen Museumspolitik, engagiert und kreativ, und ein inspirierender Lehrer.

Jean-Claude Schmitt, Le corps, les rites, les rêves, le temps. Essais d’anthropologie médiévale, Paris 2001

Als ich nach einem Dissertationsbetreuer suchte, stellte Michel Colardelle mir Isac Chiva (1925–2012) vor, ein emeritierter Ethnologe, spezialisiert auf den ländlichen Raum Frankreichs, und ein enger Mitarbeiter des Anthropologen Claude Lévi-Strauss. Chiva empfahl mir Jean-Claude Schmitt, einen Mittelalterhistoriker, den er dafür schätzte Ethnografie gut zu verstehen. Ich erzählte Chiva von meinem Interesse an der Entwicklung der Europäischen Union, insbesondere an Deutschland. Er gab mir einen Aufsatz, in dem er über den Todeszug von Iași in Rumänien im Jahr 1941 berichtet, den er überlebt hatte, sowie über seine Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan während ihres Exils in Paris und über seine spätere Zusammenarbeit mit deutschen Ethnologen, die sich dem nationalsozialistischen Erbe der Volkskunde stellten.Isac Chiva, Des itinéraires décalés et croisés / Getrennte und gekreuzte Wege. En l’honneur de Utz Jeggle, Tübingen 2001, 13 pp. Chiva drängte mich, dem zu folgen, was mir wichtig war. Jean-Claude Schmitt willigte ein, mir bei der Untersuchung eines Kirchenschatzes in der ehemaligen DDR zu helfen. Seine damals kürzlich veröffentlichte Aufsatzsammlung war ideal für meinen Übergang vom Ethnologen zum Mediävisten. Ich bewunderte die Tiefe seiner methodischen Reflexion und seine Fähigkeit, jede Art menschlicher Erfahrung zu historisieren. Dies eröffnete mir neue Möglichkeiten an einem entscheidenden Punkt, als mir klar wurde, dass die zeitgenössische Museologie viele Fragen an Kirchenschätzen zu stellen hatte.

3) Wie bewerten Sie die traditionelle Kunstgeschichte mit ihren kontroversen Begriffen und oft starren Trennungen zwischen 'Stil' und 'Ikonographie'? Was sind Ihrer Meinung nach die hermeneutischen Grenzen und Vorteile? Denken Sie, dass diese Kunstgeschichte vollständig durch neue Ansätze ersetzt werden sollte, oder sollte sie eher überarbeitet und in den gegenwärtigen kunsthistorischen Diskurs integriert werden?

Was ist traditionelle Kunstgeschichte überhaupt? Wir sollten zwischen der traditio von Artefakten, d. h. ihrer Überlieferung von einer Generation zur nächsten, und der Forschung darüber unterscheiden, die sich in der Gegenwart mit der Interpretation beschäftigt und deshalb nie wirklich traditionell ist. Mit ihren Objekten und Fragestellungen ist die Kunstgeschichte ein heterogenes Feld, in dem Faktenwissen und logische Interpretationen auf materielle und ideologische Interessen treffen. Das ist die Stärke des Faches. Unsere Lehrkräfte an der École du Louvre waren Museumsleute, die meisten von ihnen brillant. Wir haben nicht viel über kunsthistorische Methoden nachgedacht, aber wir wurden in die Kunst aller Epochen und Kontinente und in den Herausforderungen ihres Erhalts und ihrer Vermittlung eingeführt – in den Louvre-Galerien und anderen Pariser Museen. Die Perspektive war universell. Ein solcher Zugang, hier an die nationalen Sammlungen Frankreichs gebunden, wirft Fragen auf. Als ich die École du Louvre verliess, verspürte ich den Wunsch, einen Schritt zurückzutreten und unsere ‚westliche‘ Faszination für Museumsobjekte als kulturelle Konstruktion zu untersuchen. Geschichte und Anthropologie waren dabei hilfreich. Über spätere akademische Erfahrungen in Deutschland und Italien kam ich zurück zu den Objekten und zur Kunstgeschichte. Das Durchqueren verschiedener Wissenschaftskulturen, fast wie ein Ethnologe, und die Übernahme von organisatorischen Funktionen in internationalen Forschungsgemeinschaften (am Kunsthistorischen Institut in Florenz, an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und nun im Musée du Louvre) haben mich gelehrt, dass Methoden oft aus Unwissenheit und Angst oder aus einer irrationalen Verpflichtung gegenüber einer Idee des Fortschritts abgelehnt werden. Integration ist produktiver. Ich bewundere starke Argumentation, sei es zu Stil, Ikonographie oder anderen Themen, und tue mein Bestes, um zu lernen, zu kooperieren und die Kunstgeschichte zu bereichern.

4. Seit den 1990er Jahren hat unser Fach viele verschiedene 'Turns' erlebt, die jeweils den Fokus auf eine der vielen Dynamiken legten, an denen Bilder beteiligt sind. Inwiefern profitierte Ihre Forschung von solchen wissenschaftlichen Debatten?

Ich habe an zwei Forschungsgruppen teilgenommen, die die wissenschaftliche Untersuchung von Bildern erneuern wollten. Diese Erfahrungen waren für mich prägend. Jean-Claude Schmitt hatte als einer der Kulturhistoriker in der Folge von Jacques le Goff verstanden, dass Bilder das imaginaire vergangener Gesellschaften dokumentieren. Er zeigte auch, welcher Platz dem Konzept der imago in der mittelalterlichen Anthropologie zukommt. Michel Pastoureau, der sich mit der Symbolgeschichte von Farben und Tieren beschäftigte und diesen Ansatz auch auf Objekte ausdehnte, erklärte, wie das Imaginäre Teil der Wirklichkeit ist (später erkannte ich, wie dies über die Freundschaft seines Vaters mit André Breton mit dem Surrealismus zusammenhängt). Meine zweite Begegnung war mit der Bildwissenschaft von Horst Bredekamp, meinem zweiten Doktorvater in Berlin. Von dort aus erhielt ich eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Hamburg, wo Bredekamp dazu beigetragen hatte, das Erbe Aby Warburgs (1866–1929) und dessen Warburg-Hauses zu aktualisieren, was mein Verständnis dieser intellektuellen Gemeinschaft vertiefte. Die erste wissenschaftliche Tagung, auf der ich einen Vortrag hielt, wurde — zwischen Paris und Berlin — von Hans Beltings Gruppe in Karlsruhe organisiert, und seine eher körperliche Bild-Anthropologie spielte ebenfalls eine wichtige Rolle für mich — ebenso wie später Herbert L. Kesslers umfassendes Wissen und theoretisches Verständnis christlicher Bilder des Mittelalters. Die Bildwissenschaft untersucht alle Arten von Bildern, auch jenseits des sakralisierten Kunstbegriffs. Dies brachte mich allmählich zurück zur Kunstgeschichte. Da dieses Fach jedoch mehr umfasst als nur Bilder, angefangen bei ihren vielfältigen Beziehungen zu allen Arten von dreidimensionalen materiellen Objekten, schlug ich den Begriff Objektwissenschaft als nötige Ergänzung und Erweiterung vor und gründete eine Buchreihe mit dem Titel Object Studies in Art History.Object Studies in Art History, Berlin/Boston 2018–, bisher 7 Bde (Herausgeberschaft ab 2024 zusammen mit Joanna Olchawa). Meine Arbeit fokussiert auf leicht bewegliche Objekte an der Schnittstelle von Kunstgeschichte, Kulturgeschichte und Sozialgeschichte.

5. Welche Begriffe sind Ihrer Meinung nach besonders wichtig für unser heutiges Verständnis von Bildern, und wie haben sie Ihren Zugang beeinflusst?

Ich verstehe Bilder als Objekte. Objekte sind per Definition, d.h. etymologisch, das, was die Sinne eines Subjekts beeinflusst und kognitiv verarbeitet wird. Es gibt einen nützlichen Unterschied zwischen „Ding“ und „Objekt“, obwohl etwas beides gleichzeitig sein kann. Dinge werden abstrakt aufgefasst als konkret existierend. Objekte hingegen werden durch die Sinne wahrgenommen: Sie bestehen aus sinnlichen Eigenschaften, die durch Erfahrung in bestimmten gelebten Situationen zusammenkommen. Wahrnehmung ist kulturell bedingt und ständig kreativ. Sie ist eine Erfahrung der Präsenz, aber auch eine der Distanz oder der Abwesenheit, wenn es um den Entzug von Sinnlichkeit geht. Letzteres tritt ein, wenn der Zugang zu den Objekten nicht unmittelbar ist. Das ist natürlich bei Bildern der Fall, insofern man das dort Abgebildete meist nur von einer Seite sehen und nicht berühren, riechen, hören usw. kann, obwohl unser Gehirn dies ergänzt. Dargestellte Objekte mögen auch unrealistisch sein, also nur in Bildern und Texten oder in unseren Köpfen existieren können. Objektwahrnehmungen und ihre kognitiven Interpretationen sind der Stoff kreativer Neukombinationen und Aktualisierungen. Das ist es für mich, was die Kunstgeschichte zu untersuchen hat. Bilder sind, wie andere Objekte auch, multisensorische und kognitive Erfahrungen.

6. Wie verstehen Sie die Frage nach der „Bedeutung“ in visuellen Objekten? Wie schaffen es Bilder, Sinn zu vermitteln, und welche Implikationen hat das?

Nur ein kleiner Teil dessen, was Menschen mit ihrem Körper wahrnehmen, wird zu Ideen verarbeitet. Die meisten Wahrnehmungen bleiben unbewusst, prägen jedoch trotzdem künftige Wahrnehmungen und Reaktionen mit. Wir gewöhnen uns daran, in bestimmten Umgebungen wahrzunehmen und zu handeln. Dieser Anpassungsprozess ist identitätsbildend. Er führt zu Stilen, die am besten als Effekte von Wiederholung und Familiarität beschrieben werden – so in einem Sammelband über Stil im anthropologischen, technischen und ästhetischem Verständnis, herausgegeben von Bruno Martinelli im Jahr 2005.Bruno Martinelli (Hg.), L’interrogation du style. Anthropologie, technique et esthétique, Aix-en-Provence 2005. Über die Individuen hinaus entstehen kollektive Stile, sobald Menschengruppen Praktiken, Objekte und Bilder teilen. In solchen sinnlichen Gemeinschaften einigen sich die Menschen darauf, wie bestimmte Wahrnehmungen bewertet und interpretiert werden sollen: Wenn den Stilen Bedeutung zugeschrieben wird, werden sie zu Symbolen. Wie Symbolik innerhalb von Gruppen konzipiert wird, variiert, wie Philippe Descola es in seiner Anthropologie der Figuration für sichtbare Formen gezeigt hat.Philippe Descola, Les formes du visible. Une anthropologie de la figuration, Paris 2021; dt. Übers. Die Formen des Sichtbaren. Eine Anthropologie der Bilder, Berlin 2023.

7. Inwieweit wird „Bedeutung“ durch Faktoren bestimmt, die nicht mit der spezifischen visuellen Erscheinung von Bildern zusammenhängen, wie z.B. Inszenierungstrategien, Sichtbarkeitsbedingungen und allgemein die Erfahrungsdimension der Betrachter:innen?

Die Vorstellung, dass Menschen fünf Sinne haben, wobei dem Sehen besonderer Wert zukomme, war bereits in der Antike bekannt. Diese Vorstellung ist jedoch eine Vereinfachung, die die Dynamiken und Komplexitäten der Multi- und Intersensorik ausser Acht lässt sowie andere Sinne, wie die Propriozeption, durch die wir unsere Bewegungen und Positionen wahrnehmen. Wenn wir Körper in Bildern sehen — heldenhafte, gefolterte, aktive usw. —, dann bezieht unser Gehirn das Gesehene auf unsere eigenen vergangenen, und gegenwärtigen, Körperwahrnehmungen. Das gleiche passiert mit anderen Darstellungen und mit Wahrnehmungen durch andere Sinne. Das Erleben von Bildern ist niemals nur visuell, weshalb die umgekehrte Frage interessant ist: Wann wird Bedeutung auf eine spezifisch visuelle Weise in Bildern erzeugt? Vielleicht wenn Bedeutung konventionell wird, wie in der sogenannten „Ikonographie.“ Visuelle Kodifizierungen sind jedoch nur in bestimmten Kontexten bedeutungsvoll. Es gibt ikonografische Stile, ebenso wie es Denkstile gibt. Und auch die Grenzen ikonischer Repräsentationen sind nicht immer klar. Ich war Mitherausgeber eines Bandes zu fünfzig Objekten vom späten Mittelalter bis heute, die alle Formen von Büchern aufweisen, aber unterschiedliche Funktionen erfüllten, vom Reliquar über die mechanische Uhre bis hin zur Camera Obscura und zur Laptop-Tasche.Philippe Cordez, Julia Saviello (Hg.), Fünfzig Objekte in Buchform. Vom Reliquiar zur Laptoptasche, Emsdetten 2020. Sind sie fingierte Bücher, also gleichsam Bilder, die man in der Praxis, durch Objektnutzung als solche erfahren würde? Eher sind sie Neukombinationen tatsächlicher Elemente von Büchern, die materiell und symbolisch mit anderen, buchfremden Elementen zusammengehalten werden, um in bestimmten Situationen mentale Bilder hervorzurufen und Bedeutung zu erzeugen.

8. Sind wir Ihrer Ansicht nach heute besser ausgestattet, um die komplexe Beziehung zwischen der visuellen Erscheinung von Bildern und den Erwartungen der Betrachter:innen zu rekonstruieren und zu verstehen?

Wir stehen an einem interessanten Punkt. Mir scheint, dass nur Bilder zu beachten in eine Sackgasse führt. Das hilft uns zwar, sie ernst zu nehmen und passende Theorien zu entwickeln, aber es führt auch zu einer Essentialisierung der Bilder oder sogar einer Verallgemeinerung dessen, was „das Bild“ sei. Das mag für Ästhet:innen oder Philosoph:innen interessant sein und kann aus diesen Perspektiven untersucht werden, ist jedoch als Grundlage für die Kunstgeschichte als umfassende Humanwissenschaft ungenügend. Um ganzheitlichere Ansätze für Bilder zu entwickeln, müssen wir erkennen, dass Gesehenes und Imaginiertes immer in Verbindung mit allen Arten von Sinneswahrnehmungen erfahren, im Gedächtnis gespeichert und erinnert wird. Bilder sind zudem Teil der Realität, die sie darstellen, ob als Artefakte oder in unseren Köpfen. In zwei Aufsätzen konnte ich zeigen, wie der Theologe und Naturphilosoph Albertus Magnus im 13. Jahrhundert das Erscheinen eines Königskopfes auf geäderten Marmorplatten in Venedig als einen astralen Einfluss erklärte, der letztlich von Gott gelenkt wird; und wie Giotto, als er unweit von Venedig in Padua davon hörte, in seiner berühmten Scrovegni-Kapelle die Laster und Tugenden als Figuren in Stein malte, um den Betrachter:innen zu verdeutlichen, dass ihr freier Wille den astralen Bestimmungen widerstehen kann.„Albertus Magnus und die Steine von Venedig. Ein Beitrag zur “Bildwissenschaft“ des 13. Jahrhunderts“, in Isabella Augart, Maurice Sass, Iris Wenderholm (Hg.), Steinformen. Materialität, Qualität, Imitation, Berlin/Boston 2019, S. 191–205; ders., „Les marbres de Giotto. Astrologie et naturalisme à la chapelle Scrovegni“, in Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz, 45/1, 2013, S. 8–25. Diese Behauptung der menschlichen Kunst als Teil der Naturkräften war noch bis weit in die frühe Neuzeit relevant. Heute bieten Entwicklungen in der Sinnes- und in der Technikanthropologie Möglichkeiten für die Kunstgeschichte, ihre Perspektiven zu erweitern und an interdisziplinären Debatten teilzunehmen.Philippe Cordez, „Werkzeuge und Instrumente in Kunstgeschichte und Technikanthropologie“, in Philippe Cordez, Matthias Krüger (Hg.), Werkzeuge und Instrumente, Berlin 2012 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, 8), S. 1–19; Philippe Cordez, Ivan Foletti (Hg.), Objects Beyond the Senses. Studies in Honor of Herbert L. Kessler = Convivium. Exchanges and Interactions in the Arts of Medieval Europe, Byzantium, and the Mediterranean VIII/1, 2021.

9. Inwiefern können Bilder beeinflussen, wie ihre Betrachter:innen weitere Bilder und andere Aspekte von Realität und Erfahrung verstehen?

Hier ist die Vorstellung von verschiedenen Existenzweisen hilfreich. Bruno Latour beschreibt damit die Heterogenität menschlicher Erfahrung in den Bereichen Wissenschaft, Politik und Religion, mit dem Ziel, zur Bewältigung sozialer und ökologischer Herausforderungen neue Verbindungen zu schaffen.Bruno Latour, Enquête sur les modes d’existence. Une anthropologie des Modernes, Paris 2012; dt. Übers. Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014. Objekte, Bilder und Texte existieren ebenfalls als Realitäten, die zwar ontologisch unterschiedlich, jedoch über sinnliche Eigenschaften miteinander verbunden sind, sei es durch direkte Erfahrung oder in Darstellungen. Diese Eigenschaften schaffen also Kontinuitäten zwischen unterschiedlichen Bereichen, und ihre Neukombinationen prägen zukünftige Wahrnehmungen. So existierte zum Beispiel die mit Bildern verzierte Krone der Hildegard von Bingen in verschiedenen, aber miteinander verbundenen Formen: als Vision, die die Mystikerin des 12. Jahrhunderts erlebte; als schriftliche Beschreibung dieser Vision; als prächtig besticktes persönliches Insignium (das bis heute erhalten ist und kürzlich identifiziert werden konnte); als die ähnlichen, aber einfacheren Kronen für Hildegards Nonnen beim Singen; und in dem, was Andere ausserhalb ihres Klosters darüber hörten.Philippe Cordez, „Hildegard von Bingen: Das Haar und der Schmuck der Nonnen (um 1150)“, in Romana Sammern, Julia Saviello (Hg.), Schönheit – Der Körper als Kunstprodukt. Kommentierte Quellentexte von Cicero bis Goya,  Berlin 2018, S. 79–91; Philippe Cordez, Evelin Wetter, Die Krone der Hildegard von Bingen, Riggisberg 2019 (Monographien der Abegg-Stiftung, 21). Diese Vielfalt der Existenzweisen erzeugte Bedeutung und Legitimation für die beteiligten Objekte und Subjekte. Die Kunstgeschichte kann solche Verbindungen, in denen Bilder oft eine wichtige Rolle spielen, mitsamt ihrer Implikationen rekonstruieren.

10. Wie beurteilen Sie die Materialität von Bildern?

Materialität ist als Begriff ein Abstraktum. Ich denke, wir brauchen konkrete und präzise Fragen zu den physischen Eigenschaften spezifischer Materialien (ihre Farbe, Brillanz, Klang, Textur usw.) sowie zur Geschichte ihrer Interpretation und ihrer Einordnung in kulturellen Systemen. Ebenso relevant sind die Techniken, die sich mit den physischen und symbolischen Eigenschaften von Materialien befassen. Natur- und Datenwissenschaften können technische Entscheidungen und Muster aufzeigen; eine Ikonologie der Techniken kann ihre Sozialisierung durch Darstellungen beleuchten. Materialien zu Bildern zu formen, schafft Verbindungen zwischen diesen Materialien, den Bildern und den involvierten Techniken ‒ möglicherweise mit weitreichenden Konsequenzen. Die Analyse von Sklavenfiguren, die aus Ebenholz geschnitzt wurden — als Teile von Stühlen und Gueridons, die um 1700 in Venedig hergestellt wurden — führte mich dazu, die Assoziationsgeschichte zwischen dem Material Ebenholz und den Körpern von Menschen nachzuzeichnen, die als schwarz identifiziert wurden oder sich selbst identifizierten. Dies steht im Zusammenhang mit dem transatlantischen Sklavenhandel und seinem Erbe in Europa und Amerika.„Ebenholz-Sklaven. Zum Mobiliar Andrea Brustolons für Pietro Venier (Venedig, 1706)“, in Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 3/2013, S. 24–41. Wie dieser Fall verdeutlicht, erleben wir Bilder materiell mit unseren Körpern, und sie prägen, wie wir als Individuen und in Gesellschaft unsere Körper bewohnen.

11. Wie können wir aus Ihrer Sicht das „soziale Leben“ von Bildern verstehen? In welchem Sinne können wir annehmen, dass Bilder mit ihren Betrachter:innen und Nutzer:innen in Beziehung stehen?

Wenn wir Metaphern vermeiden und präzise sein wollen, dann haben Bilder kein „soziales Leben“. Weder leben, noch handeln sie, und deshalb ist es im faktischen Sinne falsch, sie zum Subjekt eines aktiven Verbs zu machen. Vielmehr sind es die Menschen, die Bilder schaffen, sie in ihr soziales Leben einbeziehen und mit ihnen handeln. Bilder und Objekte haben Geschichten, keine Biografien. Es ist zwar üblich, leblose Objekte mit Leben und Subjektivität zu versehen. Das trifft auf Spielzeuge in einer normalen Phase der Kindesentwicklung zu; es scheint das Hauptziel bestimmter Bilder von Göttern oder Individuen zu sein, und es kommt auch häufig in der Werbung vor. Kunsthistoriker:innen sollten solche Glaubensvorstellungen als Wissenschaftler:innen jedoch nicht teilen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die Ursprünge, Formen und Funktionen dieser Überzeugungen zu beschreiben. Hilfreiche Partner in diesem Bestreben sind Psycholog:innen sowie Religions- und Politikwissenschaftler:innen und allgemeiner Sozialwissenschaftler:innen, da alle menschlichen Gesellschaften Objekte einbeziehen. Noch wichtiger ist, dass die Zuschreibung von Subjektivität an Bilder und andere Objekte bedeuten kann, Verantwortung zu verschieben und somit von der eigentlichen Rolle der Menschen abzulenken. Dies kann weitreichende Konsequenzen haben. Die Kunstgeschichte kann in vielen Fällen dazu beitragen, zu erklären, was hier stattfindet und worum es eigentlich geht.

12. Involviert die Erfahrung von Bildern ausschliesslich das Sehen oder spielen auch andere Sinne eine Rolle? Bitte nennen Sie, wenn möglich, ein Beispiel aus Ihrem Forschungsbereich.

Objekte, die Bilder tragen — das heisst auch: Bilder als Objekte — erfordern Multisensorik auf verschiedene Weise, ebenso wie Bilder, die Objekte in Relation zu Körpern darstellen. Eine Aufgabe der Kunstgeschichte ist es stets, zu begreifen, wie dies geschieht. Nicht alle Objekte und Bilder sind für eine „objektive“ Wahrnehmung gedacht. Ein Beispiel dafür ist ein durchsichtiger Glasbecher, der um 1300 mit bunten Bildern von üppiger Vegetation und drei Kamelen emailliert wurde — Tieren, die dafür bekannt sind, selten, aber dann viel auf einmal zu trinken. Dieser kleine Becher, der wahrscheinlich für den Verkauf in Venedig hergestellt und später im Rheinland ausgegraben wurde, lud den Benutzer ein, den erfrischenden Wein durch diese Bilder hindurch zu betrachten, bevor er ihn trank. Er musste sowohl auf dem Markt attraktiv sein, als auch unterhaltsam für betrunkene Menschen mit veränderten sensorischen und kognitiven Fähigkeiten, daher das einfache Muster und die generische Aussage.Philippe Cordez, Ella Beaucamp, „Glass Vessels, Camel Imagery, House Façades: The Venetian Art of Commodities (13th–14th Centuries)“, in Philippe Cordez, Ella Beaucamp (Hg.) Typical Venice? The Art of Commodities, 13th–16th Centuries, London/Turnhout 2020 (In the Shadow of the Lion of St. Mark, 2), S. 4–43. Ein weiteres, viel komplexeres multisensorisches Objekt, das ich untersucht habe, ist ein hydraulischer Musikbrunnen, ein einmaliges Werk aus Edelmetall, das im 14. Jahrhundert in Paris hergestellt wurde und sich heute im Cleveland Museum of Art befindet.„Musique et Jouvence au royaume de France. Le Roman de Fauvel et la fontaine de Cleveland (Paris, vers 1320)“, in Gianenrico Bernasconi, Susanne Thürigen (Hg.), Material Histories of Time. Objects and Practices, 14th–19th Centuries, Berlin/Boston 2020 (Object Studies in Art History, 3), S. 17–39; engl. Übers. „Music and Youth in the Kingdom of France. The Roman de Fauvel and the Cleveland Fountain (Paris, ca. 1320)“, in Philippe Cordez, Rebecca Müller, Joanna Olchawa (Hg.), Rhythms and Resonances. Sounding Objects in the Middle Ages, Paris/Heidelberg im Erscheinen (Passages online). Es ist reich an Bildern: wasserspeiende Männer, Drachen und Tierköpfe, emaillierte Figuren musizierender Paaren oder geflügelter Hybriden, all das eingebettet in architektonische Formen, an deren Details sich funkelnde Wassertropfen verfangen. Dieses raffinierte Objekt von bescheidener Grösse dürfte einer kleinen, privilegierten, gebildeten Gruppe ein überwältigendes sensorisches Erlebnis geboten haben. Als „Jungbrunnen“ und politische Allegorie scheint es ewiges Glück im Königreich Frankreich dargestellt zu haben. Ich denke, dass uns solche komplexen Fälle viel über Bilder lehren können, über ihr vielfältiges Verhältnis zu Objekten, und über Kunstgeschichte im Allgemeinen.

13. Neuere Studien betonen, dass „Ikonizität“ (oder „visuelle Effizienz“) nicht allein für künstlerische Bilder gilt, sondern auch als Eigenschaft nicht-figurativer Objekte wie Landschaftselementen, Naturgegenständen und Lebewesen vorkommen kann. Inwieweit können solche Objekte in eine kunsthistorische Erzählung einbezogen werden?

Das Sehen schliesst unsere Erfahrungen mit Bildern mit ein, die unsere Wahrnehmung mitprägen. So sprechen wir von einer malerischen Landschaft oder einer fotogenen Person, und umgekehrt folgen Landschaftsgestaltung und Gesichtskosmetik Trends, die durch bereits existierende Bilder gestaltet werden. Darüber hinaus können wir im Leben reale Objekte ikonisch nutzen, genauso wie Figuren in Bildern es mit Attributen tun. Solche Beziehungen zwischen Präsenz und Repräsentation, zwischen früheren Erfahrungen und sinnlicher Wahrnehmung, sind nicht nur auf das Sehen und die Bilder beschränkt; sie betreffen auch andere Sinne und Objekte. Dies wirft in der Tat eine wichtige Frage auf. Wenn bereits die Wahrnehmung eines Objekts kreativ ist und somit die Schaffung eines Artefakts bedeutet, sollte die Kunstgeschichte dann ihre Reichweite auch auf Objekte erweitern, die nicht von Menschen realisiert wurden? Ich denke ja, auch weil dies bedeutende Implikationen hat. So motiviert die Deutung des langen Zahns des Narwals als Horn des Einhorns, die im 12. oder 13. Jahrhundert etabliert wurde, teilweise immer noch die Jagd auf diesen kleinen Wal im Nordpolarmeer.„Materielle Metonymie. Thomas von Cantimpré und das erste Horn des Einhorns“, in Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 9/1, 2012 (Präparate), S. 85–92. Die Kunstgeschichte kann aufdecken, wie Leitbilder das Verhältnis der Menschen zu ‚Rohstoffen’ und anderen Ressourcen lenken. Dies ist auch im Kontext der politischen Ökologie von Bedeutung.

14. Viele Studien haben sich mit den Dynamiken beschäftigt, durch die Bilder, die ursprünglich für einen bestimmten Betrachtungskontext geschaffen wurden, auf einen anderen übertragen, dort angeeignet, umgewandelt und neu gestaltet werden. Welche hermeneutischen Werkzeuge wären in unserer Analyse solcher Phänomene hilfreich?

Bilder werden, wie andere Objekte, in spezifischen historischen Situationen gemacht und ebenso wahrgenommen, benutzt und transformiert. Diese Situationen sind materiell, sozial und symbolisch determiniert, jede einzigartig und ständig im Wandel. Objekte und Situationen sind komplex miteinander verwoben, und diese ‚Gewebe’ oder eben ‚Kontexte’ bilden, so wie sie die Zeit durchlaufen, meiner Meinung nach das Hauptproblem der Kunstgeschichte. Wie sollen wir also Objekte analysieren, insbesondere solche, die nicht dafür geschaffen wurden, vor uns zu stehen? Wir sollten sie nicht nur in einer bereits bekannten Geschichte oder in unserer Gegenwart verorten, sondern auch versuchen zu verstehen, wie Situationen durch Objekte bestimmt werden und ohne diese nicht existieren würden. Objekte entstehen aus Situationen und Kontexte, sie stellen Antworten auf diese dar und tragen so zu ihrer weiterer Gestaltung bei. Sie sind nicht autonom – das gilt selbst für moderne Kunstwerke – sondern werden als Lösungen für materielle, soziale und symbolische Probleme geschaffen, manchmal mit Einfallsreichtum oder Virtuosität. Zudem existieren Objekte in dynamischen Situationen und können als Reaktion darauf bewahrt, weggegeben oder zerstört werden. Je besser wir die Materialien, Techniken und Formen von Objekten und insbesondere von Bildern beschreiben – als spezifische Kombinationen sinnlicher Eigenschaften, die zur Wahrnehmung und Interpretation bestimmt sind –, desto besser können wir ihre Korrelationen mit den spezifischen Situationen verstehen und erklären, in denen diese Erfahrungen gemacht wurden. Dieser Ansatz führt Objektwissenschaft und Kulturgeschichte zusammen.

15. Englisch wird immer mehr zur lingua franca der globalen kunsthistorischen Forschung. Inwieweit können wir es vermeiden, Begriffe, die aus einem im Wesentlichen westeuropäischen Verständnis von Bildern, ihrer Materialität und Bedeutung stammen, auf aussereuropäische Kontexte anzuwenden?

Artefakte gehen bereits in ihrer materiellen Logik mit Sprache einher. Die relevanten Sprachen zu beachten, ist daher wichtig für ihre Untersuchung, wobei wir stets zwischen der Sprache, die von den untersuchten Menschen verwendet wird, und der analytischen Sprache der Wissenschaftler:innen unterscheiden müssen (selbst wenn es in beiden Fällen modernes Englisch ist). Kulturanthropolog:innen sprechen von der emischen und der etischen Perspektive, die Kulturen komplementär von innen und aussen beschreiben. „Kunst“ im üblichen Sinne sowie „Künstler:in“ und „Kunstgeschichte“ sind lokale und relativ junge Erfindungen, die erst vor einigen Jahrhunderten in Europa entstanden. Sie stehen in Verbindung mit dem Christentum, seiner Tradition der Repräsentation und Interpretation sowie mit dessen Wandlungen, und sie beziehen sich auf europäische Sprachen der Vergangenheit und der Gegenwart. Europäische Sichtweisen sind mittlerweile mehr oder weniger globalisiert oder werden zumindest so betrachtet. Doch „globale Kunstgeschichte“ sollte nicht lediglich die Geschichte dieses Globalisierungsprozesses sein, sei es in Form christlicher Missionen oder in der Entwicklung multipler Modernen und zeitgenössischer Kunstszenen. Zwar ist dieser Ansatz an sich ein Fortschritt, weil er explizit eurozentrischer ist als die Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts, bei denen in der Weltgeschichte ausgewählt wurde, was am besten zu den damaligen westlichen Vorstellungen von Kunst oder Weltkulturerbe passte. Aber er ist noch nicht global. Eine universalisierende Perspektive in der Kunstgeschichte wäre fruchtbar, sowohl als Analyseverfahren als auch als Botschaft, doch um sie zu entwickeln, braucht die Disziplin radikalere Ansätze, die über die gängige Vorstellung von „Kunst“ oder die für einzelne Gemeinschaften spezifischen Begriffe hinausgehen. Sie müsste Werke aus allen Zeiten und Orten nicht-hierarchisch umfassen, auch solche von Kulturen mit weniger materieller Ausstattung (und sogar über den Homo Sapiens hinaus, denn auch der Homo Neanderthalensis oder viele Tierarten gestalten Artefakte nach stilistischen Mustern). Ein strategischer Ausgangspunkt, um dies zu erforschen, stellt das europäische Mittelalter dar, als eine klare Alterität, aus der die westliche Moderne letztlich hervorgegangen ist: Schlüsselbegriffe wie imago, obiectum oder artifex wurden hier geprägt. Aber die Disziplin muss ihre Konzepte auch an noch ferneren Alteritäten prüfen, im Dialog mit Archäologie und Anthropologie.

16. Und als letzte Frage: Was fehlt uns noch? In welche Richtung sollen wir unsere Forschung in den kommenden Jahrzehnten lenken?

Die jüngeren Erfolge der Kunstgeschichte im Bereich des Sehens und der Bilder sind beeindruckend. Doch dieser Fokus hat seinen Preis: Er reduziert das Fach auf blosse Fragen der Betrachtung und der Repräsentation. Die aktuelle ökologische Lage macht es nun dringend notwendig, umfassender zu begreifen, wie Menschen Artefakte schaffen und mit ihnen in der Welt handeln, und wie sie dies auf nachhaltigere Weise tun könnten. Solche Fragen erfordern globale Zugänge zu menschlicher Erfahrung in ihrer historischen und gegenwärtigen Vielfalt. Unsere Krise ist in erster Linie ein Erbe Europas. Sie hat ihre Wurzeln in den Trennungen zwischen Handwerk, Kunst, Industrie und Design, und in den Entwicklungen in diesen Feldern. Die Kunstgeschichte kann viel beitragen, indem sie ihre Fragestellungen um Bilder herum und darüber hinaus erweitert, und dies mit Verantwortungsbewusstsein tut.

Der Autor dankt Lena Bader, Matthias Krüger, Léa Kuhn, Joanna Olchawa, Julia Oswald und Robert Vogt für ihre Kommentare.

Philippe Cordez hat Kunstgeschichte, Geschichte, Anthropologie, Museologie an der École du Louvre und der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris studiert. Promotion 2010 an der EHESS und der Humboldt-Universität zu Berlin, vom Mediävistenverband prämiert. Auf ein Stipendium der EHESS 2003–2006 folgten Stellen 2007–2009 an der Universität Hamburg, 2009–2013 am Kunsthistorisches Institut in Florenz. 2013–2018 Leiter der Forschungsgruppe Vormoderne Objekte. Eine Archäologie der Erfahrung an der LMU München, Gründung der Buchreihe Object Studies in Art History. 2018–2023 Stellvertretender Direktor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris. Vertretungsprofessuren in Montréal und Heidelberg, 2021 deutsche Habilitation über Kunsthistorische Objektwissenschaft und Mittelalter-Studien, 2022 französische Qualifikation. Seit 2023 Stellvertretender Direktor für museale Studien und Forschungsunterstützung im Musée du Louvre.