„So where do we go when we disappear into this fog of mothering?“Charlotte Jansen, „Vorwort: Reappearing Act“, in: Andi Gáldi Vinkó, Sorry I Gave Birth I Disappeared But Now I’m Back, London 20242, S. 6.
Ein Kind auszutragen ist ein einschneidendes Erlebnis und eine große Herausforderung. Die rasche Veränderung des eigenen Körpers und dessen Einnahme durch einen anderen Körper – und das von innen – kann sich wie ein Kontrollverlust anfühlen. Jedoch sind von diesem Gefühl in gewisser Hinsicht alle Eltern betroffen. Schließlich tritt auch bei jener Elternschaft, die nicht durch eine erlebte Schwangerschaft begründet ist, ein anderer Mensch mit einer Dringlichkeit in das eigene Leben, die alles verändert. Für die schwangere Person gilt dies aber in besonderem Maße, denn die Schwangerschaft wird „leiblich-subjektiv erfahren und ist zugleich kulturell bestimmt“Helga Krüger-Kirn, „Somatisches Wissen artikulieren. Annäherungen an die leiblichen Erfahrungen von Schwangerschaft und von Leihmutterschaft“, in: Feministische Studien 1 (2019), S. 48–64, hier S. 51..
Einschneidend ist das Erlebnis der Schwangerschaft nämlich nicht nur aufgrund der körperlichen Vereinnahmung durch das Kind, sondern auch wegen der Vereinnahmung durch die Gesellschaft. Eine Schwangerschaft wird nicht nur subjektiv erfahren, sie steht gleichzeitig „in einem engen Zusammenhang mit der Wirkmächtigkeit kultureller Symbolisierungen“.Helga Krüger-Kirn, „Somatisches Wissen artikulieren. Annäherungen an die leiblichen Erfahrungen von Schwangerschaft und von Leihmutterschaft“, in: Feministische Studien 1 (2019), S. 48–64, hier S. 52. Schwangerschaft wird eng mit einem Konzept von Weiblichkeit verbunden und als die vollkommene Erfüllung des sogenannten ‚Frauseins‘ durch die Mutterschaft stark idealisiertVgl. Ornaith Rodger, „Gender ldentities in the Discourse of Pregnancy: The Constructive Role of Pregnancy Advice Literature“, in: Tina-Karen Pusse, Katharina Walter (Hg.), Precarious Parenthood. Doing Family in Literature and Film, Wien 2013, S. 201–216, hier S. 204. – unabhängig davon, mit welchem Geschlecht oder Frauenbild sich die schwangere Person identifiziert.
Diese Zuschreibungen beginnen mit der Schwangerschaft und gehen weit über diese hinaus, wenn zum Beispiel das Stillen als natürlichste aller Ernährungsformen hochgepriesen wird.Vgl. Pola Groß, „Milch und Arbeit. Stillen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, in Weimarer Beiträge: Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 3 (2023), S. 325–345, hier S. 325. Die Idealisierung hat zur Folge, dass das eigene körperliche Empfinden der Betroffenen tabuisiert und ihnen abgesprochen wird, sofern es nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht. Die Zuschreibungen von außen lassen schwangere Personen in ihrer Individualität somit unsichtbar werden. Dieser Zustand der Unsichtbarkeit kann durch die Kunst – zum Beispiel die Fotografie oder Literatur – aufgedeckt und reflektiert werden, was zu einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess beitragen kann. Eine Möglichkeit, wie Kunstwerke diesen Beitrag leisten können, wird in diesem Essay anhand von Bildern der Fotografin Andi Gáldi Vinkó aufgezeigt.
Künstlerische Werke jeder Form eignen sich deshalb besonders gut für die Reflexion der gesellschaftlichen Zuschreibungen im Kontext von Schwangerschaft und Elternschaft, weil sich an ihnen in besonderer Weise die Auswirkungen dieser Zuschreibungen aufzeigen lassen. Künstler*innen leben bereits vor der Elternschaft in anspruchsvollen Lebensverhältnissen, denn „vom symbolischen Kapital der Kultur lassen sich weder Lebensmittel kaufen noch Wochenendausflüge finanzieren.“Iuditha Balint, Julia Dathe, Kathrin Schadt, Christoph Wenzel, „Vorwort“, in: Dies. (Hg.), Brotjobs & Literatur, Berlin 2021, S. 7–15, hier S. 7. Und wenn aus Künstlerinnen Eltern werden, wirkt sich nicht nur der durch Care-Arbeit bedingte Zeitmangel auf ihre Kreativität aus, im schlimmsten Fall werden schon schwangere Künstlerinnen aus ihrer Berufswelt ausgeschlossen.Vgl. Hettie Judah, How Not to Exclude Artist Mothers (and other parents), London 2022, S. 17. Die freie Journalistin Mareice Kaiser beschreibt ihr Gefühl als Mutter so: „Ich erfülle nicht die Erwartungen an mich, weder als Mutter, noch als Künstlerin. Ich scheitere, eigentlich jeden Tag.“Mareice Kaiser, „Warum Kunst kein Luxus sein sollte“, in: Fast Sommer, https://steadyhq.com/de/fast-sommer/posts/6ca96617-2146-483e-987b-f3c45b1c53ab, (letzter Zugriff 24.04.2024). Und auch die Fotografin Andi Gáldi Vinkó beschreibt eine Verunsicherung in ihrem Dasein als Künstlerin: „Now I am a mother of two working on borrowed time hoping the years I’ve lost mothering can be written into my CV without guilt or shame.“Andi Gáldi Vinkó, „Nachwort“, in: Sorry I Gave Birth I Disappeared But Now I’m Back, London 2024 (2. Aufl.). Schwangerschaft und Elternschaft werden als Hinderungsgründe empfunden, der eigenen Kunst nachzugehen. Und dies ist in der Realität auch meist der Fall. Sowohl die künstlerische Tätigkeit als auch die durch Elternschaft bedingte Care-Arbeit werden wenig oder gar nicht entlohnt, was diese Arbeitsbereiche praktisch unvereinbar macht. Gesellschaftliche Idealbilder von künstlerischer Arbeit, Geschlechterrollen und Elternschaft verstärken diese Unvereinbarkeit noch. Im Ergebnis müssen sich daher viele Betroffene entscheiden, ob sie künstlerisch arbeiten oder Kinder haben möchten. Und wer beides kombiniert, leidet meist unter einem hohen Druck und dem ständigen Gefühl des Scheiterns (s. o.).
Andi Gáldi Vinkó brachte 2022 einen Fotoband mit dem Titel Sorry I Gave Birth I Disappeared But Now I’m Back heraus. In den von 2016 bis 2022 entstandenen Fotografien wird eine Bildsprache gefunden, die mit gängigen Tabus bricht und die Realität des Alltags von schwangeren Körpern und Eltern zeigt. Die Fotografin nahm ihre eigenen Erfahrungen nach der Schwangerschaft und Geburt als Ausgangspunkt für diese Arbeit. Als sie sich der Divergenz zwischen ihrer geleisteten Care-Arbeit und deren Sichtbarkeit bewusst wurde, fing sie an „all diese kleinen Dinge – Schnuller reinigen, Wäsche machen, das Bett neu beziehen – zu fotografieren“, um eine Art Beweis für ihre tägliche Arbeit zu haben.Laura Kurtz, „Oh Baby, Baby. Interview mit Andi Gáldi Vinkó“, in: ZEIT Magazin, 12.01.2023, S. 22–27, hier S. 27. Mit der Bearbeitung dieses Themas trifft sie einen Nerv, was schon daran deutlich wird, dass die erste Ausgabe des Fotobandes bereits 2023 vergriffen war.Anfang 2024 erschien die zweite Auflage bei Trolley Books. Weitere Informationen zum Projekt und dem Fotoband sind auf der Website der Künstlerin zu finden: https://andigv.com/Sorry-I-Gave-Birth-I-Disappeared-But-Now-I-m-Back. Neben den Bildern alltäglicher Gegenstände und Handlungen im Kontext von Elternschaft steht im Projekt von Gáldi Vinkó aber vor allem die Körperlichkeit im Zentrum. Mit diesem Begriff ist hier alles den Körper betreffende gemeint – dies umfasst Form und Zustand, aber auch Erfahrungen, welche durch den Körper gemacht werden. Gáldi Vinkó inszeniert Körper(teile) in unterschiedlichen Situationen und aus verschiedensten Perspektiven: schwanger, gebärend, postpartum, stillend, gestillt, schlafend, müde, verletzt, spielend, einander berührend, jung und alt, Eltern und Kinder.
Auffallend an den Fotografien des Projekts ist, dass diese immer wieder einen starken Bezug zur Natur aufweisen. Dabei ist dieser nicht einfach auf das Klischee der Natürlichkeit von Schwangerschaft und Fürsorge zurückzuführen, wenngleich Gáldi Vinkó sicher mit dieser Zuschreibung spielt. Vielmehr nutzt die Fotografin die Natur, um der ins Zentrum gestellten Körperlichkeit ein Deutungsinstrument hinzuzufügen. Das Motivpaar von schwangerem Körper und Wasser kehrt im Fotoband ebenfalls wieder. In einer Abbildung (Abb. 1) schwimmt eine schwangere Person auf dem Rücken in einem dunklen Gewässer. Dabei wird um die Person herum Licht im Wasser reflektiert, sodass es scheint, als sei sie von kleinen leuchtenden Punkten umgeben. Das Foto unterstreicht den dargestellten Kontrast von Schwere und Leichtigkeit durch das reflektierende Licht. Gleichzeitig wird hier ein Angebot zur Umdeutung eines Körperbildes gemacht.