Essay: Das Foto-Bild als visuelle Darstellungslogik. Zu pikturalen Merkmalen des Fotografischen in nicht-fotografischen Bildmedien

Raymundo Stadelmann, April 2023, 18 min. reading time

1. Preis des Studierenden Essay-Wettbewerbs 2023

Die Frage nach dem genuin Fotografischen wurde schon vielseitig beantwortet und verschiedene Theorien zum Wahrheitsanspruch oder dem Realitätsbezug der Fotografie wurden aufgestellt. Oft kursieren diese Theorien um fotografische Bildbeispiele, die entweder einen Umstand veranschaulichen oder - seltener - für die Autor*innen von emotionaler Bedeutung sind, womit eine persönliche Erfahrung mit dem Fotografischen über ein Bild vermittelt werden kann. Dabei wird aber gerne der Umstand vernachlässigt, dass nicht-fotografische Bildmedien den fotografischen Bildmedien darin überlegen sind, selektive - rein aus menschlicher Wahrnehmung priorisierte - Aspekte des Fotografischen zu exemplifizieren. Während eine Fotografie in allen Hinsichten fotografisch sein mag, kann in nicht-fotografischen Bildmedien präzise erörtert werden, welche pikturalen Aspekte von einer visuellen Kultur geprägt sind, die in ihrem ästhetischen Repertoire mit fotografischen Konventionen in Berührung kam.

In diesem Essay möchte ich einer Beweisführung nachgehen, die sich als Kommentar zu Andreas Cremoninis Text „Reale Bilder - Bilder des Realen. Fotografieren als Paradigmen des Begehrens“ versteht.[1] Cremonini geht scharfsinnig der Frage nach, wie Fotografien in (foto-)theoretische Diskurse als Bildbeispiele eingebunden werden. Sein Essay distanziert sich von allgemeinen Behauptungen und versucht an konkreten Fällen zu beantworten, wie Fotografien als Bildbeispiele funktionieren und eingesetzt werden können. In diesem Essay will ich Cremoninis vielversprechenden Ansatz übernehmen, um zwei Ex-Negativo Beispiele anzufügen und somit über nicht-fotografische Bildbeispiele im fototheoretischen Diskurs zu schreiben. Damit erhoffe ich mir, pikturale Merkmale des Fotografischen in nicht-fotografischen Bildmedien herauszukristallisieren und somit die Fotografie stärker in die Geschichte der Wahrnehmung und deren visuellen Produkte einzubinden. 

Das erste Bild-Beispiel, welches ich anführen möchte, stammt aus Kendall L. Waltons Buch „Marvelous Images“ (2008), das mitunter die Grundlage zur viel diskutierten „Transparenz Theorie“ bildet. Darin wird behauptet, dass fotografische Bilder eine Nähe zu „[m]echanical aids to vision“[2] - wie Ferngläser, Spiegel oder Mikroskope - aufweisen, die darin besteht, Bildreferenten direkter zu sehen als durch nicht-fotografische Bildmedien.[3] Somit spricht Walton dem fotografischen Bild einen anderen Status zu als anderen Bildmedien. „Photographs are pictures, to be sure, but not ordinary ones. They are pictures through which we see the world.“[4] Bereits der Vergleich der Fotografie zu anderen optischen Hilfsmitteln lässt vermuten, dass aus der Betrachtung einer Fotografie auch eine andere Sehpraktik hervorgeht, wie wir sie in nicht-fotografischen Bildmedien erfahren. Zugunsten meiner eigenen Argumentation kann ich hier nicht vollumfänglich auf die Ambivalenz der „Transparenz Theorie“ eingehen. Dennoch ist hervorzuheben, dass Waltons Alleinstellungsmerkmal der fotografischen Aufzeichnung auf einer konterfaktischen-Abhängigkeit beruht. Damit wird ausgedrückt, dass die fotografische Aufnahme kausal an eine empirische Gegebenheit gebunden ist. „Photographs are counterfactually dependent on the photographed scene even if the beliefs (and other intentional attitudes) of the photographer are held fixed.“[5] Nach Walton können fotografische Bilder demnach opaker oder transparenter sein, sprich: wir sehen durch letztere einfacher hindurch (through), während erstere einen durchsichtigen Blick auf die Bildreferenz durch mediale Bedingungen erschweren.[6] In den „Postscripts to Transparent Pictures“ aus der Buchfassung 2008 misst er der digitalen Fotografie eine generelle Veranlagung zu opaker Bilderscheinung bei. Grundlegend können aber analoge wie auch digitale Fotografien durch Manipulation an Prozessen der Bildentwicklung opak gestaltet werden. Jedoch neigt die digitale Bildgenerierung und Postproduktion eher zu opaker Bilderscheinung, aufgrund des „fact that electronic manipulation is vastly easier (and easier to disguise in the final product) than darkroom doctoring, and so is far more common and far more likely in particular cases.“[7] Daraus folgt, dass „[d]igital images, then, are ordinarily more likely to be opaque, or opaque in a given respect, than film photographs.“[8]

Walton bindet Chuck Closes „Self-Portait“ (1968)[9] in seine Argumentation ein, um zu demonstrieren, wie Malerei es vermag, die Illusion von Transparenz aufrecht zu erhalten. Interessant an Waltons Auseinandersetzung mit dem Werk ist der Umstand, dass er die vorgetäuschte Transparenz der Acryl-Malerei mit Möglichkeiten digitaler Bildgenerierung vergleicht: „What is perhaps even more significant is that digital technology makes it relatively easy to create illusions of transparency like that of Chuck Close’s Self Portrait (…).“[10] Walton bringt das Bild-Beispiel ein, um[1]  dem Überraschungsmoment nachzugehen, der durch die Verkennung der technischen Grundlage des Werks ausgelöst wird. In diesem jolt, der durch die Kenntnisnahme der medialen Bedingungen des Bildes ausgelöst wird, sieht Walton die grundlegende Unterscheidung zwischen fotografischen und nicht-fotografischen Bildern. Womit sich Walton kaum beschäftigt aber für mich von zentraler Bedeutung ist, formt die Voraussetzung, dass das Bild als fotografisch wahrgenommen wird. Walton hat Closes Malerei gewählt, weil sie Transparenz - oder eben das Fotografische - exemplifiziert. Während für Walton kaum von Bedeutung ist, wie diese fotografischen Merkmale beispielhaft gemacht werden[2] , will ich die selektiven Exemplifikationen erkunden, welche Close explorativ anbringt. Für Walton - und da folge ich ihm - „the remarkable realism of photographs is considered to derive not from what they look like but from how they come about.“[11]Diese grundlegend unterschiedliche Auslegung, was den Realismus der Fotografie bedingt, markiert das Fundament für Waltons Transparenz Theorie. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass es in den fotografisch geprägten visuellen Kulturen Merkmale gibt, die nicht kausal aus der Mechanik der Fotografie herzuleiten sind, dennoch als genuin fotografische wahrgenommen werden und einen vermeintlichen Realitätsbezug herstellen.

Chuck Close, Big Self-Portrait (1967–68), Acryl auf Leinwand, 273.1 x 212.1 cm, Walker Art Center Acquisition Fund 1969, © Chuck Close.

In Closes „Self-Portrait“ (1968) versteht der Künstler mit diesen Konventionen zu spielen. Allein schon auf der Produktionsebene des grossformatigen Portraits, treffen malerische und fotografische Traditionen zusammen. Das schwarz-weiss Selbstporträt, welches über mehrere Schritte auf die Leinwand überführt und übersetzt wurde, kann einerseits als Weiterführung der Porträtmalerei verstanden werden[12], andererseits aber dessen Transformation im ersten Erfolgsformat
 der frühen Fotografie: der Carte-de-Visite. Close bricht jedoch mit tradierten Normen. Während klassische Carte-de-Visite Anordnungen - oder deren Weiterführung im Passfoto - auf Augenhöhe angelegt sind, wählt Close für das Selbstporträt die sonderliche Untersicht. Beim Betrachten des „contact sheets“ (1967-1968) zu „Self-Portrait“ (1968) wird der Kamerastandpunkt nochmals einfacher zu erörtern, dadurch dass der grössere Bildausschnitt mehr von Closes Schultern und Oberkörpers freilegt und der Akt des sich Selbst-Fotografierens deutlich zum Vorschein kommt. Aus heutiger Perspektive könnten wir diesen Akt wieder in eine jüngere Tradition des Fotografischen einbinden: In diejenige des Selfies. An den Self-Portrait Maquettes (1968), die der Endfassung vorausgehen, können auch Techniken der Assemblage und der Kompositfotografie ausgemacht werden, vorausgesetzt wir verstehen diese einzelnen Arbeitsschritte als autonome Werke, wie es Siri Engberg nahelegt, wenn sie von den maquettes als „important work of paper in their own right“[13] spricht. Die zusammengesetzten, mit Tape befestigten und mit einem Raster überlegten maquettes setzen sich nicht nur aus verschiedenen Bildteilen zusammen, sondern rekurrieren - durch das aufgezeichnete Raster - auf Techniken der neuzeitlichen Malerei, wie wir sie aus Albrecht Dürers Fadengitter kennen. Anhand der vielfältigen Produktionsbedingungen haben wir gesehen, wie Closes Werk sowohl auf Traditionen der Malerei aber auch auf historische Praktiken des Fotografischen beruht und Malerei und Fotografie dadurch in eine immer engere, selbstreferentielle Rückkoppelungsschlaufe geraten.

Chuck Close, Self-Portrait Maquettes, 1968, 4 Gelatine-Silberabzüge mit Bleistift, Abdeckband und Airbrush-Farbe auf Schaumstoffplatte aufgezogen, 76,2 x 61 cm, Sammlung Robert und Gayle Greenhill, © Chuck Close.
Chuck Close, Self Portrait Contact Sheet, 1967-1968, Schwarz-Weiß-Fotografie, 25,4 x 20,3 cm, Privatsammlung, New York, © Chuck Close.

Ein noch nicht besprochener Aspekt des Fotografischen, der genuin fotografisch ist und bei Close nur angedeutet zur Geltung kam, möchte ich abschliessend diskutieren. Ich hatte vorhergehend angemerkt, dass Closes Blick in „Self-Portrait“ (1968) auf eine spezifisch fotografische Tendenz hindeutet, die wir unter dem allgegenwärtigen Phänomen des Selfies täglich beobachten können. Dabei soll jetzt keine Untersuchung des Selfies folgen,[14] sondern viel mehr will ich Konsequenzen eines „Blickregimes“ herausarbeiten, die rein fotografisch zu erachten sind. Kaja Silverman hat den Begriff des Blickregimes in die Visual (Culture) Studies eingebracht, um eine epochenspezifische Darstellungslogik zu proklamieren, „die unseren Blick auf die Objekte bestimmt und die Gestalt, die wir selbst annehmen, sowie der Wert, den ein inzwischen komplexer organisiertes visuelles Feld diesen Darstellungen beimisst.“[15] Nach Silverman hat die (Stand-)Fotografie eine Schlüsselrolle darin, wie „wir das Gespiegelt werden (er)leben.“[16] Mit Bezug auf Susan Sontag konstatiert Silverman, dass wir „uns unserer eigenen Positionierung im Feld des Sichtbaren genau dann bewusst [werden], wenn wir uns selbst in der Gestalt einer phantasmatischen Fotografie wahrnehmen.“[17] Bereits die antizipatorische Erstarrung des Körpers im Moment der Konfrontation mit einer realen oder metaphorischen Kamera deutet nach Silverman auf ein Subjekt hin, dass sich durch Gesten oder Posen dem Blickregime[14]  anbietet. Die Pose scheint für Silverman ohnehin das Beweisstück per se zu sein, mittels welches sich das Subjekt als „Fotografie“ inszeniert.[18] „Die Pose imitiert nicht nur ein schon vorliegendes Bild bzw. eine visuelle Figur, sie imitiert vor allem die Fotografie als solche“, denn in der Pose „sind alle Aspekte des Fotografischen gegenwärtig, die im Bereich der Subjektivität relevant sind.“[19] In Closes „Self-Portrait“ (1968) können wir diese Pose nachempfinden, in dem er uns in eine intime Situation zwischen Kamera und Subjekt wirft. Die Kamera wird Teil des Werks, dadurch dass Close sie so positioniert, wie es in klassischer Porträtfotografie unüblich ist. Während die realisierte Fotografie - mitsamt Pose und Blick des Künstlers auf die Kamera - auf eine eindringliche Weise einen [15] Einblick in die intime Beziehung gewährt, wimmert noch das Phantasma der fotografischen Konventionen der Carte-de-Visite im Bild - nicht zuletzt auch durch die Übertragung der Grisaille-Töne. Silverman macht diese Unterscheidung zwischen ideeller Ansicht des Blickregimes und alternativen Blickrichtungen an Cindy Shermans Serie „Untitled Film Stills“ (1977-1980) fest. Im Folgenden will ich aber Merkmale des Fotografischen und des Blickregimes erkunden, die sich in der Schnappschuss-Fotografie zeigen und anhand eines nicht-fotografischen, digital generierten Bildbeispiels nachzeichnen lassen. Dies scheint mir von Bedeutung, weil damit gegenwärtig wird, dass streng fotografische Merkmale auch in computergenerierten Bildern (re-)konstruiert werden, um Anzeichen von „Realismus“ heraufzubeschwören, die wir in nicht-fotografischen Wahrnehmungsmodi nicht erfahren würden.

Kaum eine virtuelle Persönlichkeit erfreut sich über so zahlreiche Besuche wie @lilmiquela auf der Social Media Plattform Instagram. Mit beinahe drei Mio. Abonnent*innen gehört sie zu den erfolgreicheren Influencer: innen der beliebten Meta Inc. Plattform. Im Zentrum ihrer Inszenierungen steht nichts anderes als sie selbst, wo sie nebenbei für verschiedenste Produkte, die sich in ihren Instagram-Bildern nur schleichend bemerkbar machen, wirbt.[1] 

Screenshot von @lilmiquelas Instagram Account.

Ihr Aussehen ist wohl mit Jia Tolentinos Begriff des Instagram face am treffendsten beschrieben: „the algorithmic tendency to flatten everything into a composite of greatest hits (…) resulted in a beauty ideal that favored white women capable of manufacturing a look of rootless exoticism.“[20] In einfach gehaltenem kalifornischem Hintergrund, posiert der schlanke, immer auf die betrachtende Person ausgerichtete Avatar. So spontan und reflexartig @lilmiquelas Posen auch aussehen mögen, die Bildkomposition beruht auf einer Schnappschuss-Ästhetik, die paradoxerweise offensichtlich konstruiert, durchdacht und stets überzeugend Akteurin, Farben und Hintergrund in Einklang bringt. Besonders spannend an der Inszenierung ist aber, wie Realitätsbezug über die Konventionen des Fotografischen aufrechterhalten wird. Auch wenn die generierten Bilder durchaus Spielraum hätten, fotorealistischer entwickelt zu werden, setzten die Produzent*innen (ein Technologie-Startup aus Los Angeles) nicht auf die entsprechende Detailtreue, welche das fotografische Bild auszeichnen kann, sondern auf andere Charakteristiken, die der Fotografie zugewiesen werden. Wie bereits erwähnt, ist es augenfällig, dass @lilmiquelas Gesten und Blickrichtung auf die Präsenz einer Kamera ausgerichtet sind. Ihr Blick, der niemals die betrachtende Person verfehlt, hinterlässt den Eindruck, als wisse sie genau, wie der Kamera gegenüber zu agieren. Das Spiel zwischen Kamera und Akteurin richtet sich nach der alltäglichen Konvention, einem auf sich gerichteten Aufnahmeapparat stets aus erstem Impuls heraus in die Linse zu blicken. Dass ein Computer generiertes Bild aber keinen externen Aufnahmeapparat bedarf, der Spontanität festzuhalten vermag, weist darauf hin, dass sich die Produzentinnen einem Bildtypus (dem Snapshot) bedienen, der in der gegenwärtigen visuellen Kultur, dem Fotografischen zugesprochen wird. Nicht zuletzt machen einige Bilder auch den Anschein, als würden sie mit einem Kamerablitz beleuchtet werden. Da wo jedoch ein Blitz in der Fotografie verwendet wird, dort reichen die natürlichen Lichtverhältnisse entweder nicht aus oder der Blitz wird als Stilmittel eingesetzt. In keinem Fall suggeriert der Einsatz des Blitzes in der Fotografie aber einen Realitätsbezug. Eher lässt er das Bildmotiv artifiziell erscheinen. Offenbar ist der Effekt des Blitzes - inklusiv der harten Kontur der sich bildenden Schatten - im Computer generierten Bild erwünscht, um fotografische Qualitäten heraufzubeschwören. Die Referenz auf das Fotografische reicht in der Logik des Computer generierten Bildes, um einen Bezug zur empirischen Welt zu simulieren. Dass bestimmte Details, wie die künstliche Belichtung oder die Spiegelung und Reflexion bestimmter Oberflächen so fein berücksichtigt wurden, aber die Produzentinnen auf eine „fotorealistische“ Detailtreue an @lilmiquela verzichten, verweist darauf, dass die irrationale Macht der Fotografie nicht nur auf technologische Verfahren des Apparats beruht, sondern ebenso gut in der uns umgebenden visuellen Kultur verankert ist und über andere Bildmedien gleich überzeugend vermittelt werden kann. Damit schafft der Schnappschuss auch einen Realitätsbezug, der auf einem „Effekt von Authentizität [beruht], in welchem die Genauigkeit des Dargestellten eher in einem treffenden Einfangen des Augenblicks und seines Bedeutungshorizonts liegt als in seiner technischen Durchführung.“[21] Dass sich dieser vermeintliche Realitätsbezug durch Momenthaftigkeit auch künstlich konstruieren lässt, zeigt einerseits auf, dass er nicht spezifisch fotografisch sein muss aber andererseits als solcher in der fotografisch geprägten visuellen Kultur fixiert ist. Somit gelangen wir wieder an den Ausgangspunkt, dass die Geschichte der Fotografie - wie die Geschichte anderer Bildmedien - sich in die medienbedingte, sich wandelnde Geschichte der Wahrnehmung inskribiert hat. Nach Walter Benjamin „verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung.“[22] Da die Wahrnehmung „nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt“[23] ist, erfolgt ihre Organisation über jeweils andere Medien. Diese medialen Einwirkungen und Strategien nachzuzeichnen müssen aber nicht im Produkt eines jeweiligen Mediums erfolgen. Dementsprechend möchte ich mich auch für einen Forschungsansatz des Fotografischen stark machen, der sich nicht auf fotografische Bildmedien einschränken lässt, sondern betonen, dass sich auf der Suche nach dem genuin Fotografischen, sich jedes andere Bildmedium als geeigneter Reflexionsort erweist.[24] Sowohl Closes wie auch @lilmiquelas Beispiele bekräftigen die Sichtweise, dass die Konsequenzen fotografischer Bildmedien - auf die Art und Weise wie „die menschliche Wahrnehmung sich organisiert“[25] - in nicht-fotografischen Bildmedien besonders kenntlich werden. Im Gegensatz zu Fotografien, können nicht-fotografische Bilder gemeinhin die Merkmale des Fotografischen exemplifizieren, die sich innerhalb grosser Zeiträume in die Geschichte der Wahrnehmung eingeschrieben haben, während die Artefakte, welche zwar fotografisch sind, aber sich in einer spezifischen visuellen Kultur nicht durchgesetzt haben, wohl tatsächlich exklusiv in fotografischen Bildmedien zu erkunden sind.

[1] Andreas Cremonini, Reale Bilder - Bilder des Realen. Fotografieren als Paradigmen des Begehrens, in: Bild-Beispiele. Zu einer pikturalen Logik des Exemplarischen, hrsg. von Andreas Cremonini und Markus Klammer, Willhelm Fink Paderborn 2020.

[2] Kendall L. Walton, Marvelous Images: On Values and the Arts, Oxford University Press, New York 2008, S. 88. Eine erste Version des Chapter 6: Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism erschien bereits 1984 in: Walton, Kendall L., Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism, Critical Inquiry 11, no. 2 (1984): 246–77. Dies soll angefügt sein, weil dieser Essay viel diskutiert wurde und die mir vorliegende Version eine überarbeitete Fassung darstellt.

[3] Walton spricht dabei von „seeing through“. Auch Walton ist sich der Schwierigkeit des Verbs „to see“ bewusst. Trotz Allem bleibt er beim Verb, wenn er behauptet: „The Photographs are transparent. We see the world through them.“ Damit rückt er „seeing through“ in Verwandtschaft zu „perceiving“.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda, S.100.

[6] Leider geht Walton kaum auf die medialen Bedingungen ein. Dabei wäre es höchst interessant - aber vielleicht auch ein wenig vernichtend -, inwiefern sich verschiedene fotografische Medien (wie z.B. Daguerreotypie, Kalotypie oder Stereoskopie) in ihrer „Transparenz“ unterscheiden.

[7] Ebenda, S.115.

[8] Ebenda. Auch wenn aus heutiger Perspektive der Umbruch zwischen den fotografischen Modi zugunsten einer Kontinuität angefochten wird, muss Waltons Transparenz Theorie vor dem Hintergrund dieses vermeintlichen Bruches verstanden werden.

[9] In der kunsthistorischen Literatur wird Closes Werk als „Big Self-Portrait“ (1968, Acryl auf Leinwand, 273.1 x 212.1 cm) betitelt. Dies liegt daran, dass aus demselben Jahr ein weiteres „Self-Portrait“ vorhanden ist, dass wesentlich kleiner ausfällt (Masse 74 x 58,4 cm) und Close mit der Zigarette in der anderen Mundhälfte zeigt. Ich werde aus Gründen der Kontinuität ebenfalls von „Self-Portrait“ (1968) sprechen und meine damit die grossformatige Version.

[10] Kendall L. Walton, Marvelous Images: On Values and the Arts, Oxford University Press, New York 2008, S. 115.

[11] Ebenda, 97.

[12] Dass sich Künstler selbst für Studienzwecke oder anderweitig gezeichnet oder gemalt haben, ist seit der frühen Neuzeit bekannt und zeigt sich auch in den vielen Studien Albrecht Dürers. Zur historischen Transformation, Funktion und Stellenwert der Porträtmalerei siehe: Andreas Beyer, Das Porträt in der Malerei, Hirmer: München, 2002.

[13] Siri Engberg, The Paper Mirror: Chuck Close’s Self-Reflection in Drawings and Prints, in: Chuck Close: Self-Portraits 1967-2005, hrsg. von Nickel Douglas et al., Museum of Modern Art: San Francisco 2005, S.119., Dass die Werke unter anderem signiert sind, spricht ebenfalls für die Autonomie der Maquettes.

[14] Insbesondere auch dadurch, dass Close mit der Praktik des Selfies noch gar nicht konfrontiert war.

[15] Kaja Silverman, Dem Blickregime begegnen, in: Privilegierter Blick: Kritik der visuellen Kultur, hrsg. von Christian Kravagna, Edition ID-Archiv 1997(1996?), S.41-64, hier: S.42. Der englischsprachige Aufsatz trägt den passenderen Titel: „How to Face the Gaze“, in: Cindy Sherman, 2006.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda, S.43.

[18] Aus Platzgründen kann ich leider nicht auf die subversiven Akte eingehen, die sich gegen das Blickregime stellen, in Silvermans Essay aber ausgearbeitet - oder zumindest angedeutet - werden.

[19] Ebenda, S.47-48.

[20] Jia Tolentino (2019), https://www.newyorker.com/culture/decade-in-review/the-age-of-instagram-face, zuletzt aufgerufen: 12.1.2023.

[21] Lucas Knierzinger, Snapshot, in: Enzyklopädie der Genauigkeit, hrsg. von Markus Krajewski et al., Konstanz 2021, S.454.

[22] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.) Gesammelte Schriften, Bd. VII, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1989 (1935), S.354 (S.350-384). Da ich mir nicht anmassen möchte, eine präzise Definition dessen zu geben, was „Wahrnehmung“ oder Folgen davon in Benjamins Philosophie sein könnten, möchte ich Benjamins Wahrnehmungs-Begriff im Kontext des Fotografischen auf eine Darstellungslogik innerhalb der visuellen Kultur runterbrechen. Wahrnehmung oder Wahrnehmen beinhaltet offensichtlich weitaus mehr als medienbedingte Organisation visueller Artefakte. Für diesen Text soll die Vereinfachung aber ausreichen, dass die visuellen Kulturen von Medien bedingt sind und somit historisch auch andere Produkte hervorgebracht haben und andere Darstellungslogiken verfolgen. Diese können sowohl historisch, geografisch wie auch kulturell variieren.

[23] Ebenda.

[24] Insofern die visuelle Kultur, aus welcher das Bild entstanden ist, mit dem Fotografischen in Berührung kam.

[25] Ebenda.