1. Preis des Studierenden Essay-Wettbewerbs 2023
Die Frage nach dem genuin Fotografischen wurde schon vielseitig beantwortet und verschiedene Theorien zum Wahrheitsanspruch oder dem Realitätsbezug der Fotografie wurden aufgestellt. Oft kursieren diese Theorien um fotografische Bildbeispiele, die entweder einen Umstand veranschaulichen oder - seltener - für die Autor*innen von emotionaler Bedeutung sind, womit eine persönliche Erfahrung mit dem Fotografischen über ein Bild vermittelt werden kann. Dabei wird aber gerne der Umstand vernachlässigt, dass nicht-fotografische Bildmedien den fotografischen Bildmedien darin überlegen sind, selektive - rein aus menschlicher Wahrnehmung priorisierte - Aspekte des Fotografischen zu exemplifizieren. Während eine Fotografie in allen Hinsichten fotografisch sein mag, kann in nicht-fotografischen Bildmedien präzise erörtert werden, welche pikturalen Aspekte von einer visuellen Kultur geprägt sind, die in ihrem ästhetischen Repertoire mit fotografischen Konventionen in Berührung kam.
In diesem Essay möchte ich einer Beweisführung nachgehen, die sich als Kommentar zu Andreas Cremoninis Text „Reale Bilder - Bilder des Realen. Fotografieren als Paradigmen des Begehrens“ versteht.[1] Cremonini geht scharfsinnig der Frage nach, wie Fotografien in (foto-)theoretische Diskurse als Bildbeispiele eingebunden werden. Sein Essay distanziert sich von allgemeinen Behauptungen und versucht an konkreten Fällen zu beantworten, wie Fotografien als Bildbeispiele funktionieren und eingesetzt werden können. In diesem Essay will ich Cremoninis vielversprechenden Ansatz übernehmen, um zwei Ex-Negativo Beispiele anzufügen und somit über nicht-fotografische Bildbeispiele im fototheoretischen Diskurs zu schreiben. Damit erhoffe ich mir, pikturale Merkmale des Fotografischen in nicht-fotografischen Bildmedien herauszukristallisieren und somit die Fotografie stärker in die Geschichte der Wahrnehmung und deren visuellen Produkte einzubinden.
Das erste Bild-Beispiel, welches ich anführen möchte, stammt aus Kendall L. Waltons Buch „Marvelous Images“ (2008), das mitunter die Grundlage zur viel diskutierten „Transparenz Theorie“ bildet. Darin wird behauptet, dass fotografische Bilder eine Nähe zu „[m]echanical aids to vision“[2] - wie Ferngläser, Spiegel oder Mikroskope - aufweisen, die darin besteht, Bildreferenten direkter zu sehen als durch nicht-fotografische Bildmedien.[3] Somit spricht Walton dem fotografischen Bild einen anderen Status zu als anderen Bildmedien. „Photographs are pictures, to be sure, but not ordinary ones. They are pictures through which we see the world.“[4] Bereits der Vergleich der Fotografie zu anderen optischen Hilfsmitteln lässt vermuten, dass aus der Betrachtung einer Fotografie auch eine andere Sehpraktik hervorgeht, wie wir sie in nicht-fotografischen Bildmedien erfahren. Zugunsten meiner eigenen Argumentation kann ich hier nicht vollumfänglich auf die Ambivalenz der „Transparenz Theorie“ eingehen. Dennoch ist hervorzuheben, dass Waltons Alleinstellungsmerkmal der fotografischen Aufzeichnung auf einer konterfaktischen-Abhängigkeit beruht. Damit wird ausgedrückt, dass die fotografische Aufnahme kausal an eine empirische Gegebenheit gebunden ist. „Photographs are counterfactually dependent on the photographed scene even if the beliefs (and other intentional attitudes) of the photographer are held fixed.“[5] Nach Walton können fotografische Bilder demnach opaker oder transparenter sein, sprich: wir sehen durch letztere einfacher hindurch (through), während erstere einen durchsichtigen Blick auf die Bildreferenz durch mediale Bedingungen erschweren.[6] In den „Postscripts to Transparent Pictures“ aus der Buchfassung 2008 misst er der digitalen Fotografie eine generelle Veranlagung zu opaker Bilderscheinung bei. Grundlegend können aber analoge wie auch digitale Fotografien durch Manipulation an Prozessen der Bildentwicklung opak gestaltet werden. Jedoch neigt die digitale Bildgenerierung und Postproduktion eher zu opaker Bilderscheinung, aufgrund des „fact that electronic manipulation is vastly easier (and easier to disguise in the final product) than darkroom doctoring, and so is far more common and far more likely in particular cases.“[7] Daraus folgt, dass „[d]igital images, then, are ordinarily more likely to be opaque, or opaque in a given respect, than film photographs.“[8]
Walton bindet Chuck Closes „Self-Portait“ (1968)[9] in seine Argumentation ein, um zu demonstrieren, wie Malerei es vermag, die Illusion von Transparenz aufrecht zu erhalten. Interessant an Waltons Auseinandersetzung mit dem Werk ist der Umstand, dass er die vorgetäuschte Transparenz der Acryl-Malerei mit Möglichkeiten digitaler Bildgenerierung vergleicht: „What is perhaps even more significant is that digital technology makes it relatively easy to create illusions of transparency like that of Chuck Close’s Self Portrait (…).“[10] Walton bringt das Bild-Beispiel ein, um[1] dem Überraschungsmoment nachzugehen, der durch die Verkennung der technischen Grundlage des Werks ausgelöst wird. In diesem jolt, der durch die Kenntnisnahme der medialen Bedingungen des Bildes ausgelöst wird, sieht Walton die grundlegende Unterscheidung zwischen fotografischen und nicht-fotografischen Bildern. Womit sich Walton kaum beschäftigt aber für mich von zentraler Bedeutung ist, formt die Voraussetzung, dass das Bild als fotografisch wahrgenommen wird. Walton hat Closes Malerei gewählt, weil sie Transparenz - oder eben das Fotografische - exemplifiziert. Während für Walton kaum von Bedeutung ist, wie diese fotografischen Merkmale beispielhaft gemacht werden[2] , will ich die selektiven Exemplifikationen erkunden, welche Close explorativ anbringt. Für Walton - und da folge ich ihm - „the remarkable realism of photographs is considered to derive not from what they look like but from how they come about.“[11]Diese grundlegend unterschiedliche Auslegung, was den Realismus der Fotografie bedingt, markiert das Fundament für Waltons Transparenz Theorie. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass es in den fotografisch geprägten visuellen Kulturen Merkmale gibt, die nicht kausal aus der Mechanik der Fotografie herzuleiten sind, dennoch als genuin fotografische wahrgenommen werden und einen vermeintlichen Realitätsbezug herstellen.