Als ein «Relais zwischen Raum und Bild» haben Dennis Göttel und Florian Krautkrämer die Glasscheibe bezeichnet, die als kinematografisches Objekt in den vergangenen Jahren erhöhte Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Filmwissenschaft erfahren hat. Seit den Anfängen der Filmgeschichte beschreibt die Metapher der Glasscheibe oder des Schaufensters ein spezifisches Verhältnis zwischen Zuschauer:innen und Bewegtbild, das sich auf einen virtuellen Raum hin öffnet und diesen zugleich unserem Zugriff entzieht. In der Filmproduktion spielen Glasscheiben eine zentrale Rolle, von der geschliffenen Kameralinse bis zum Trickeffekt des glass shots, bei dem der profilmische Raum um gemalte Elemente auf einer Glasscheibe zwischen Kamera und Filmset erweitert wird. Als Medien der Durchsicht haben Glasscheiben das Potential, sich der filmischen Wahrnehmung zu entziehen: Sie verschwinden als transparente Oberfläche idealerweise genau an dieser subliminalen Grenze, wo sie den Blick auf Anderes auftun.
Tatsächlich ist diese völlige Transparenz sowohl in der filmischen wie in der alltäglichen Wahrnehmung eher die Ausnahme. Glasscheiben begegnen uns in der Regel nicht einfach als unsichtbare Barrieren wie in Playtime (FR 1967, R: Jacques Tati), sondern als Oberflächen mit Verunreinigungen, Spiegelungen und anderen optischen Effekten, in denen sich das Licht bricht oder die das Dahinterliegende je nach Schliff transformieren. In ihrem Videoessay Carol – Gazing Through the Surface über die titelgebende Patricia Highsmith-Verfilmung von 2015 widmet sich Sabina Zwicky genau jenen Momenten, in denen Glasscheiben ihre völlige Transparenz aufgeben und als Schichtungen und Rahmungen selbst zu ästhetischen Objekten werden. Reflektierende Oberflächen sind in Carol (USA 2015, R: Todd Haynes) allgegenwärtig und scheinen die Charaktere zugleich zu isolieren und zu exponieren. Statt eines voyeuristischen Blicks entdeckt Sabina Zwicky in diesem Gefüge von Oberflächen, Räumen, Körpern und Blicken eine dezidiert feministische Ästhetik. Mit ihrem Videoessay sensibilisiert sie für eine filmische Ethik des Abstands, der Freiräume eröffnet, Verletzlichkeit zulässt und andere Formen der Intimität ermöglicht. Das Trennende, Reflektierende, Abschirmende und Zerbrechliche der Glasscheibe wird hier zum Ort eines Dazwischens, an dem herkömmliche Subjekt-Objekt-Relationen nur abperlen können.
Sabina Zwicky studiert an der Universität Basel Medienwissenschaft und Englisch. Zurzeit absolviert sie einen Aufenthalt an der Seoul National University. Ihr Videoessay «Carol – Gazing Through the Surface» entstand im Frühlingssemester 2022 am Seminar für Medienwissenschaft im Rahmen des Proseminars There is no Final Cut: Video Essay als Intervention und epistemische Praxis bei David Bucheli.
(Text: David Bucheli)